Rollenklischees durchbrechen
Nadine Wyss ist die einzige Frau, die in diesem Jahr im Kanton Solothurn den Jagdschein erlangt hat. Mit ihren 25 Jahren gehört sie zu den jüngsten Jägersleuten.
67 Jagdreviere gibt es im Kanton Solothurn. Von Oktober bis Dezember dauert die traditionelle Herbstjagd. Wobei das ganze Jahr über im Revier gehegt und gejagt wird. Seit diesem Sommer ist auch Nadine Wyss aus Breitenbach offiziell Jägerin. Nebst 25 Jungjägern wurde Nadine im Juli als einziger Frau der Jagdschein überreicht. Wobei «jung» altersgemäss vor allem auf Nadine Wyss zutrifft. «Die meisten Absolventen bewegten sich um das Pensionsalter und hatten dementsprechend genug Zeit, sich auf die Prüfungen vorzubereiten», erzählt die 25-Jährige. «Die Ausbildung ist sehr anspruchsvoll und zeitintensiv», bestätigt auch die Mutter von Nadine.
Die Jagdprüfung im Kanton Solothurn gliedert sich in einen praktischen und einen theoretischen Teil. An der praktischen Prüfung mussten die Kandidatinnen und Kandidaten einen Jagdparcours mit gestellten jagdlichen Situationen absolvieren, Distanzen schätzen, den sicheren Umgang mit der Jagdwaffe zeigen und ihre Schiessfertigkeit mit der Kugelbüchse und der Schrotflinte beweisen. In Theorie wurden die Fächer Wildtierbiologie, Wild und Umwelt, Jagdpraxis, Geschichte, Gesetz und Öffentlichkeitsarbeit geprüft. Im Verlaufe des Ausbildungsjahres müssen 25 Hegestunden zugunsten der Wildtiere und ihrer Lebensräume geleistet werden. Im Schnitt dauert die Ausbildung 1,5 Jahre. Die Ausbildung steht allen offen.
Salz für die Rehe — mehr Sicherheit für den Automobilisten
Nadine Wyss liebt die Natur und mag es, draussen zu sein. So verbrachte sie den Sommer auf einer Alp, um Käse herzustellen, und genoss die Abgeschiedenheit. Zu Hause hat sie zwei Pferde, um die sie sich vor der Arbeit, über den Mittag und abends kümmert. Über den gleichaltrigen Nachbarssohn kam sie als Zwölfjährige mit dessen Vater und der Jagd in Kontakt. Dieser ist Mitglied beim Jagdverein Bärschwil-Grindel, zu dem nun auch Nadine als Gastjägerin gehört. Insgesamt hat der Verein elf Pacht- und fünf Gastjäger, davon drei Frauen. «Die Aufgaben als Jägerin bestehen nicht nur im Schiessen des Wildes, sondern auch in der Pflege des Wildes und seines Lebensraums. Zum Beispiel bauen wir Salzlecken und bewirken damit, dass die Rehe weniger oft das Salz der Strasse auflecken und sich selbst und Automobilisten durch Unfälle in Gefahr bringen», erzählt Nadine.
Sie geniesst die Kameradschaft unter den Jägern. Sehr gerne ist sie aber auch allein auf dem Hochsitz, wobei es ihrer Mutter lieber ist, wenn der Freund dabei ist. Nadine lacht: «Ich könnte mich gegen einen Angreifer wehren, ich habe ja das Gewehr dabei.» Sie erhofft sich, bald einen Rehbock schiessen zu können. Als erstes Tier hat sie vor ein paar Wochen einen Fuchs erlegt. «Es war schon ein komisches Gefühl, als ich ihn schoss», bestätigt Nadine. Sie habe aber früher schon mit dem Grossvater zusammen Kaninchen und Hühner geschlachtet. Während sechs Jahren war sie Vegetarierin. Heute isst sie wieder Fleisch, achte aber darauf, wie das Tier gehalten wurde. «Am ökologischsten ist das Wildtier aus der Region: frei von Antibiotika und bis zum Tod in freier Natur», ist sie überzeugt.
Landmaschinenmechanikerin
Und wie ist es, in einer Männerdomäne tätig zu sein? Als Landmaschinenmechanikerin und Mitglied bei der Feuerwehr sei sie es gewohnt, sich in einer Domäne der Männer zu bewegen. Sie versuche jedoch, diese typischen Rollenverteilungen zu durchbrechen. Sie verstehe nicht, wieso immer die Frauen mit der Feuerwehr aufhören, sobald ein Kind ins Spiel kommt. Der Mann könnte auch zu Hause bleiben, so wie dies im Berufsleben immer mehr praktiziert wird. Nadine Wyss möchte sich nicht um Klischees kümmern, sondern das tun, was ihr gefällt, und ihr Leben so gestalten, wie es sich für eine junge Frau im Jahr 2022 gehört.