«Es tut weh, Russe zu sein»

Der in Kleinlützel wohnhafte, russische Autor und Putin-Kritiker Mikhail Schischkin nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, die Tragik des Krieges in der Ukraine und die unmenschlichen Angriffe auf dieses demokratische Land zu dokumentieren.

Schämt sich für ein Land, das nicht mehr seines ist: Michail Schischkin in seinem Garten in Kleinlützel. Foto: Martin Staub
Schämt sich für ein Land, das nicht mehr seines ist: Michail Schischkin in seinem Garten in Kleinlützel. Foto: Martin Staub

In welcher Beziehung stehen Sie zur Ukraine? Und zu Russland?

Mikhail Schischkin: In diesen Tagen tut es weh, Russe zu sein. Russische Raketen töten täglich Kinder. Und mit jedem abgerissenen Leben wird der Hass gegen alles Russische nur steigen. Was kann ich tun? Nur sprechen, schreiben, auftreten. Erklären: Russland ist nicht Putin. Ich mache, was ich kann. Wir haben eine Familie aus der Ukraine aufgenommen.

Der Krieg in der Ukraine dauert nun bereits fünf Wochen. Wie beurteilen Sie die Situation heute?

Jeder Tag bringt den Sieg der Ukraine und die Niederlage des putinschen Regimes näher.

Was muss passieren, damit dieser Krieg endet?

Ich hoffe auf den Selbsterhaltungstrieb der russischen Offiziere und Generäle, die jetzt in die Ukraine gehen wie Schafe zur Schlacht. Nur sie können diesen Krieg stoppen, indem sie die verbrecherischen und selbstmörderischen Befehle des verrückten Führers im Kreml verweigern.

Sie bezeichneten die Drohungen von Putin vor Kriegsausbruch als «Säbel­rasseln» (NZZ, 19.02.2022). Glaubten Sie damals noch nicht an einen Kriegsausbruch?

Das glaubte ich nicht, wie auch jeder normale Mensch glaubte, dass Putin mit diesem Krieg einen Suizid begehen würde. Und doch hat er das gemacht.

Sehen Sie ein Ende der Ära Putin? Und was kommt danach?

Ich weiss nicht, was kommt. Aber ich weiss, was kommen muss. In Russland gab es keine Entstalinisierung, keine Nürnberger Prozesse für die Kommunistische Partei. Da haben wir das Resultat: eine neue Diktatur. Naturgemäss braucht eine Diktatur Feinde und einen Krieg. Diesen Krieg kann Putin weder gewinnen noch verlieren. Wie genau sein Ende kommt, weiss niemand, aber es kommt ohne Zweifel. Und dann muss eine totale Entputinisierung Russlands stattfinden. Ohne nationale Schuldanerkennung hat Russland keine Zukunft.

Für uns Westeuropäer ist schwer nachvollziehbar, dass sich die russische Bevölkerung nicht stärker auflehnt gegen die Diktatur, gegen den Krieg, gegen Putin. Einige Mutige gehen zwar auf die Strasse, werden aber sofort festgenommen. Wäre die Masse der Mutigen grösser, wäre doch die Polizei überfordert.

Sie haben recht, mit zehn Millionen Russen auf den Strassen wäre die Wende möglich. Aber aktuell ist die letzte Zeile des berühmten historischen Dramas «Boris Godunow» von Puschkin: «Das Volk schweigt.» An der KGB-Schule hat Putin gelernt: Erpressung und Angst machen Wunder mit Menschen. Es sind die Überlebenserfahrungen über Generationen hinweg: Schweigen ist sicherer. Die Macht hat immer recht. Die Macht hängt nicht von der Meinung der Bevölkerung ab, sie ist einfach da oben, und man muss gehorchen, egal welcher Befehl kommt. Das macht den russischen Zaren sakral. Und wer widerspricht, wird ermordet wie Nemtzow oder landet im Gefängnis wie Alexei Navalny und Hunderte politische Häftlinge. Oder in der Emigration. Die ältere Generation sitzt bis jetzt fest unter dem Hammer des putinschen Fernsehens. Die sind überzeugt, dass der Westen Russland überfallen will, deshalb denken sie, sie müssten die Heimat verteidigen wie ihre Grossväter dies tun mussten. Der Satiriker Kosma Prutkow sagte im 19. Jahrhundert: «Ein Mensch gleicht einer Wurst — womit du ihn füllst, das wird er werden.»

Der Westen, USA, Europa und auch die Schweiz haben mit ihren Sanktionen gegen das Regime Russlands schon viel unternommen, um dieses «auszutrocknen». Reicht das Ihrer Meinung nach?

Mikhail Schischkin: Meine einzige Hoffnung ist die ukrainische Armee und das Volk, das praktisch im Alleingang nicht nur für eigene Freiheit und Zukunft kämpft, sondern für die Zukunft Russlands, der Schweiz und der ganzen Menschheit. Der Kriegsplan des russischen Generalstabs sah vor, dass sich die Nato in die «Befreiung» der Ukraine mit ihren Streitkräften nicht einmischen wird. Warum sollte die Welt wegen irgendeines Mariupols im nuklearen Inferno enden? Diese Rechnung ging auf. Keine «no-fly zone» im ukrainischen Himmel. Genau nach Putins Plan hat der Westen die Ukraine militärisch im Stich gelassen. Aber mit den Ukrainern hat sich Putin verkalkuliert. Die russische Armee erleidet dort eine klare Niederlage. Und die westlichen Sanktionen tragen dazu bei, obwohl sie zu spät kommen, sie hätten den Aggressor schon 2014 nach dem Anfang dieses Krieges gegen die Ukraine treffen sollen.

Zurzeit sind Sie im In- und Ausland dauernd unterwegs zu Podien, Interviews, Vorträgen. Dazu schreiben Sie umfassende Kommentare und Essays für wichtige Presseerzeugnisse.

Wie geht es Ihnen dabei?

Ich tue, was ich kann. Aber manchmal habe ich das Gefühl, das sind bloss Worte und man sollte lieber etwas Konkretes tun. Wir haben eine ukrainische Familie bei uns zu Hause, den achtjährigen Mischa und seine Mutter Elena. Sie sind aus Odessa und sprechen Russisch. Mischas Grossmutter ist in Odessa geblieben und er hat Angst, etwas Schlimmes könnte der Oma passieren. Er weiss, dass russische Raketen Städte in der Ukraine zerstören und Menschen töten. Wie kann man einem russischen Jungen aus Odessa erklären, warum der russische Pilot vielleicht sein Haus zerstören und seine Oma töten kann? Wir haben ein Picknick bei uns im Wald gemacht, nichts Besonderes, Würste gegrillt. Mischa sagte dann, dass das ein ganz besonderer Tag für ihn war, und er wird das nie in seinem Leben vergessen. Das war für mich viel wichtiger als alle meine Interviews.

Zur Person

Mikhail Pawlowitsch Schischkin, 1961 in Moskau geboren, studierte Germanistik und Anglistik an der Staatlichen Pädagogischen Universität in Moskau. Er gilt als wichtigster russischer Gegenwartsautor und wurde als einziger mit den drei wichtigsten russischen Literaturpreisen ausgezeichnet (Russischer Bookerpreis, Russischer Bestsellerpreis, Bolschaja-Kniga-Preis).

Seit 1995 lebt Schischkin in der Schweiz und arbeitete bis 2005 als Dolmetscher und Lehrer. Seit 2011 wohnt Michail Schischkin mit seiner Familie in Kleinlützel.

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