«Es braucht mehr Menschen mit Behinderung, die Einfluss haben»
An einer Podiumsdiskussion über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung wurde klar: Die Schweiz hinkt trotz Gesetz und UNO-Konvention hinterher.
Der Reinacher Gemeinderat und Präsident der Baselbieter FDP Ferdinand Pulver möchte in den Nationalrat. Seit einem Motorradunfall sitzt er im Rollstuhl. Für den Nationalratswahlkampf hat er die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung zu seinem Schwerpunktthema gemacht. Am vergangenen Donnerstag lud er zur Führung durch das Wohn- und Bürozentrum für Körperbehinderte (WBZ) in Reinach mit anschliessender Podiumsdiskussion. Dort ist Pulver Vizepräsident des Stiftungsrats. Unter der Leitung von Fabia Maieroni, Redaktionsleiterin des Wochenblatts, diskutierten neben Pulver die Baselbieter Regierungspräsidentin und Vorsteherin der Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion Monica Gschwind (FDP), Philipp Schüepp, Politikverantwortlicher von Pro Infirmis, der Fachorganisation von Menschen mit Behinderung, und Buchautor und Publizist Fritz Vischer. Wie Pulver sitzt auch er im Rollstuhl.
Organisator Ferdinand Pulver wählte für die Diskussion mit Absicht einen provokanten Titel: «Fordern Menschen mit Behinderung zu viel?» Dass es noch immer zu Konflikten kommt – als Beispiel wurden die für Velofahrende gefährlichen hohen Haltekanten beim öffentlichen Verkehr genannt –, liege daran, dass die Schweiz bei der Umsetzung des 2004 eingeführten Behindertengleichstellungsgesetzes weiter hinterher hinke. «Hätten wir nicht geschlafen, wären all diese Probleme schon längst ausgeräumt», meinte Pulver.
Alle Podiumsteilnehmenden waren sich einig, dass die Schweiz trotz Gesetz und dem Beitritt zur Konvention der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2014 noch immer zu wenig mache. Beim Kanton Baselland sei man schon weiter, betonte Monica Gschwind und listete bereits umgesetzte Massnahmen auf. Dafür gab es Lob von Philipp Schüepp von Pro Infirmis. «Viele Kantone können sich von Baselland eine Scheibe abschneiden.» Man wolle die Teilhabe von Menschen mit Behinderung stärken, erklärte Monica Gschwind. Daran, dass es die Gleichstellung nicht zum Nulltarif gibt, erinnerte Ferdinand Pulver. Man müsse sich dies leisten, fand Gschwind.
«Harzige» Entwicklung der Gleichstellung
Für ihn sei es immer noch schwierig, mit dem öffentlichen Verkehr zu fahren, klagte Ferdinand Pulver. Wenn er irgendwo hingehe, müsse er sich überlegen, wie er im Notfall auf die Toilette könne. Rollstuhlgängige Toiletten seien immer noch selten, gerade auch in Reinach, wie ein Zuhörer aus dem Publikum kritisierte. «Es gibt Frust und gesteigerte Enttäuschung», mahnte der Reinacher Gemeinderat. Er wünscht sich auch deshalb, dass mehr Menschen mit Behinderung in der Politik aktiv würden. Das ist auch das Ziel von Pro Infirmis: Die Fachorganisation empfiehlt und unterstützt schweizweit 30 Nationalratskandidierende mit Behinderung. «Es braucht mehr Menschen mit Behinderung, die Einfluss haben», forderte Philipp Schüepp.
Auf die Frage, ob es Institutionen wie das WBZ in Zukunft überhaupt noch brauche, betonte Autor und Publizist Fritz Vischer genauso die «harzige» Entwicklung der Gleichstellung in der Schweiz. Grund dafür sei auch, dass es in der Schweiz keine kriegsverletzten Soldaten gegeben habe. «Das WBZ wird es auch noch in 30 Jahren geben. Es bleibt immer eine gewisse Anzahl an Personen, die diese Selbstständigkeit nicht hat.»
Alle Podiumsteilnehmenden unterstrichen die Bedeutung der Inklusionsinitiative, bei der erstmals Verbände und Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen zusammenarbeiten. Im vergangenen Frühjahr begann dafür die Unterschriftensammlung. Die Initiative fordert die Verankerung der Gleichstellung in der Verfassung.
In der abschliessenden Fragerunde im sehr gut besuchten WBZ wurde unter anderem moniert, dass bei allem, was geplant und gemacht wird, Menschen ohne Behinderung über Menschen mit Behinderung entscheiden. Das müsse sich ändern.