Warum hatte mein Schwesterchen kein Grab?
Früher durften Kinder, die tot geboren wurden, sogenannte Engelskinder, nicht auf dem Friedhof beigesetzt werden.
An Allerseelen gedenkt die Gemeinschaft der Katholischen Kirche aller Verstorbenen. Ob sie einen Grabstein haben auf einem Friedhof oder eine öffentliche Gedenkstätte. Ob ihre Asche in der Natur verstreut oder dem Wasser übergeben wurde. Jeder Mensch hat seine eigene Beziehung zum Erinnerungsort seiner Lieben, die vorangegangen sind. Er pflegt seinen eigenen Umgang zu einem Grab, zu einer Ruhestätte. Ich schreibe hier über meine persönliche Erfahrung zu einem «Nichtgrab», das mich beschäftigt, seit ich denken kann. Mein Text ist keine wissenschaftliche Abhandlung. Es ist die Geschichte meiner Mutter. Und aller Frauen, die dasselbe oder Ähnliches erlebt haben. Allüberall auf der Welt.
Ich war lange der Meinung, ich sei das erste Kind meiner Eltern. Irgendwann, ich nehme an, es war zu meinem Schulanfang — einen Kindergarten gab es im Bergdorf nicht — erzählte meine Mutter, dass schon vor mir ein Mädchen auf die Welt gekommen sei. Das wunderte mich, denn es gab kein Grab für dieses Kind auf dem Friedhof. Meine Mutter erklärte, das Mädchen sei tot zur Welt gekommen. Also konnte es nicht getauft werden, war somit Heidin und durfte nicht auf den gesegneten Friedhof. Man sagte, für diese Geschöpfe gebe es keine Erlösung, sie würden ewig bleiben zwischen Himmel und Hölle: im Vorhimmel. Im Gegensatz zum Fegfeuer, wo Hoffnung auf Rettung bestand. Deshalb war es wichtig, die Kinder rasch taufen zu lassen, schliesslich war die Säuglingssterblichkeit damals gross. Ich wurde an einem Samstag geboren; am Sonntag nach dem Hauptgottesdienst fand bereits die Taufe statt.
Ich hätte gerne gewusst, wo mein Schwesterchen begraben ist. Als meine vierjährige Schwester tödlich verunglückte (ich war acht Jahre alt), wurde sie auf dem Kinderfriedhof begraben und bekam ein schmales «Chrüzli». Nach einem Jahr zimmerte Vater ein solides Kreuz. Er befestigte Irens Namen und Jahresdaten mit Kupferbuchstaben und setzte dem Kreuz ein Kupferdach in A-Form auf. «Das muss so sein», sagte er, «so kann das Wasser abfliessen und der Schnee abrutschen, damit das Holz nicht fault.» Zusätzlich hatte er das Kreuz mit Schrauben auf einen Block aufgezogen. Vor dem grossen Wintereinbruch nahm er es nach Hause. Ich merkte: Das Kreuz war wichtig! Warum hatte das Erstgeborene keines?
Ich erinnere mich nicht, wie ich dann den Mut fand, Mutter zu fragen, wo das erste Mädchen begraben sei. Damals wusste ich auch nicht, wie Kinder in den Bauch der Mutter gelangten. Sie erzählte mir diese Geschichte: Im Frühling 1943 war Vater im Militärsanatorium Crans-Montana zur Kur. Zu Hause führte sie den Haushalt, wo auch der Grossvater lebte. Er hielt Geissen, ein Mastschwein und handelte mit Vieh. Mutter war im siebten Monat schwanger. Mittags brachte sie den Kessel mit der Schotte in den Schweinestall. Dabei hat sie das Kind verloren. Wie ging sie um mit dem kleinen Geschöpf? Wickelte sie es ein und hielt es in ihren Armen? Nach zwei Tagen kam Vater heim. Wie hatte er vom Unglück erfahren? Es gab kein Telefon weit und breit. Er vergrub das Kind. Kann man sich den Schmerz der Frauen vorstellen? Da hatten sie monatelang ihr Kind unter dem Herzen getragen. Es kam tot zur Welt — und verschwand. Keine sichtliche Erinnerung an das Menschlein.
Wieder ein paar Jahre älter traute ich mich, Mutter zu fragen, wie sie denn gewesen sei, diese Totgeburt. Allein mit dem Schwiegervater auf dem vom Dorf entfernten Hof. Sie äusserte sich nicht. «Aber wo ist das Kind begraben?», insistierte ich. «Das müssen wir doch wissen.» Mutter erklärte, Vater habe es ihr nie gesagt und sie habe nicht gewagt zu fragen. Sie vermute, es liege unter dem Klara-Apfelbäumchen.
Mit den Jahren war ich überzeugt, dass dort mein älteres Schwesterchen liegt. In Sichtweite zum Haus. Er war der erste Baum, der blühte, sogar länger als die anderen. Besonders erinnere ich mich, dass Vater stets sehnsüchtig auf die frühen ersten hübschen weissen Äpfelchen wartete. Solche, die er als reif erachtete, brachte er ins Haus. Schnitt sie feierlich in Stücke und wir alle mussten probieren. Den speziellen Geschmack konnte er nicht genug rühmen. Auch meine Brüder versuchten immer wieder, Vater das Geheimnis zu entlocken. Er nahm es mit ins Grab…