Wahlkampf mit ungewohnten Gemeinsamkeiten

Christine Dollinger (SP) und Ferdinand Pulver (FDP) wollen am 9. Juni ins Reinacher Gemeindepräsidium gewählt werden. Im Streitgespräch diskutieren sie über die Finanzen, die Entwicklung des Kägenquartiers und darüber, wie es im Siedlungsgebiet im Sommer kühler werden soll. Dabei zeigen sich überraschend viele Gemeinsamkeiten, aber nicht nur.

Keine Gegensätze: Christine Dollinger und Ferdinand Pulver scheinen sich in einigen Themen einig – wo sie sich dennoch unterscheiden, erklären sie im Interview.Foto: Fabia Maieroni

Die letzten Wochen waren eher ruhig, auch weil der Wahlkampf kein eigentlicher Kampf ist. Wo setzen Sie Ihre Schwerpunkte, damit man Sie unterscheiden kann?

Ferdinand Pulver: Ich finde es ein sehr gutes Zeichen für die politische Kultur in Reinach, dass wir eben keinen Kampf führen. Wir unterscheiden uns schon ein wenig: Meine Schwerpunktthemen sind die Finanzen, der Wirtschaftsstandort und die Digitalisierung der Gemeinde. Da müssen wir vorwärtsmachen.

Christine Dollinger: An erster Stelle steht für mich die Lebensqualität und Aufenthaltsqualität in Reinach. Mein zweites grosses Thema ist Reinach als Arbeitsort. Dazu gehört die Wirtschaft, die für Reinach sehr wichtig ist – auf der Seite der Steuern und als Arbeitgeber. Insbesondere im Kägen sehe ich noch Entwicklungspotenzial. Als Drittes die Finanzen: Ohne ausgeglichenen Finanzhaushalt haben wir keinen Spielraum. Das sind ja auch die Themen, die im ­Präsidialdepartement angesiedelt sind: Stadtentwicklung, Finanzierung, Bevölkerung und Wirtschaft.

Was würden Sie anders und vielleicht besser machen als der aktuelle Gemeindepräsident Melchior Buchs?

Dollinger: Ich vergleiche mich nicht mit Melchior Buchs. Jeder, der dieses Amt innehat, muss es mit seiner eigenen Persönlichkeit ausfüllen. Melchior Buchs ist zehn Jahre älter als ich, bereits das macht einen Unterschied. Er ist Mitglied der FDP. Es kann also sein, dass es Verschiebungen in den Schwerpunkten geben wird, dass ich verstärkt einen Schwerpunkt auf das Soziale und die Umwelt legen werde. Ferdinand Pulver ist auch im sozialen Bereich tätig. Ich weiss nicht, ob zwischen uns beiden ein so grosser Gegensatz vorherrscht.

Kein Gegensatz?

Pulver: Kein Gegensatz. Wir haben den Schwerpunkt einfach an verschiedenen Orten. Melchior Buchs hat einen guten Job gemacht. Wenn jemand Neues kommt, ergibt das auch immer eine neue Chance. Beim Wirtschaftsstandort habe ich das Gefühl, man müsste mal mit allen Beteiligten und Interessierten einen runden Tisch machen und eine Auslegeordnung vornehmen. Im Kägen haben wir von den Besitzverhältnissen her ein eher zerstückeltes Areal. Dort würde ich versuchen, dass wir grössere Parzellen zusammenbekämen, um mehr Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen.

Die Bedürfnisse im Kägen sind erkannt, und das Projekt «Kägen 2035» ist lanciert. Was muss passieren, dass das Industrie- und Gewerbequartier wieder zu den modernsten und wichtigsten in der Region gehört?

Dollinger: Ich bin viel im Kägen unterwegs und spreche mit den Menschen. Das ist eine meiner Spezialitäten. Der Kägen wäre für mich ein Schwerpunkt. Wenn man im Kägen unmotorisiert unterwegs ist, fühlt man sich nicht wirklich wohl. Wir sollten den Kägen nicht nur als Wirtschaftsstandort mit Firmen und Parkhäusern denken, sondern als Ort, wo man gerne hingeht. Dazu braucht es Grünflächen, da es sehr heiss ist im Kägen, Aufenthaltsräume, ein Café und Wege, auf denen man nicht Angst haben muss, überfahren zu werden. Ich kann mir vorstellen, dass es auf Dächern Parks geben wird, dass Erdgeschosse freigespielt und fürs Publikum geöffnet werden könnten.

Pulver: Ich hätte einen Vorschlag: Wenn wir es fertigbrächten, im Kägen eine moderne, neue nachhaltige Energieversorgung aufzugleisen, würde dies das Quartier für Firmen sicherlich interessanter machen. In Sachen Rahmenbedingungen und Infrastruktur kann die Gemeinde aktiv werden.

Die Reinacher Politik hat mit der Asylheimaffäre und den knappen Finanzen bewegte Jahre hinter sicher. Diskussionen, wohin es mit der Gemeinde gehen soll, traten in den Hintergrund. Ferdinand Pulver, wie sieht Ihre Strategie für Reinach aus?

Pulver: Wir müssen Reinach in Sachen Aufenthaltsqualität aufwerten. Wir müssen eine Klimaadaption einführen. Das ist eine Chance. Die können wir nutzen mit Begrünungen und Kühlungen, Stichwort Schwammstadt, Reinach als Wohn- und Aufenthaltsort aufzuwerten. Reinach wurde unkoordiniert gebaut. Jetzt müssen wir schauen, dass wir das in kleinen Schritten verbessern. Bei der Stadtplanung sind wir interkommunal daran, ein Konzept und eine Haltung zu entwickeln, wie man gute Raumgestaltung macht.

Dollinger: Meine Schwerpunkte habe ich vorher genannt. Einer davon ist die Lebensqualität. Grundsätzlich ist Reinach eine sehr attraktive Gemeinde. Wir sind sehr gut gelegen, mit dem öffentlichen Verkehr gut erreichbar. Wir haben einen Autobahnanschluss. Wir haben ein Naturschutzgebiet von nationaler Bedeutung. Wir haben attraktive Spielplätze, kulturelle Angebote. Aber es ist nicht gerade eine architektonisch schöne Gemeinde. Das liegt daran, dass Reinach in den 1960er- und 1970er-Jahren explosionsartig und unkontrolliert gebaut wurde. Da haben wir über Quartierpläne die Möglichkeit, hochwertige Bauten zu erstellen, und es braucht eine aktive Begrünung und Entsiegelung.

Sie scheinen in vielen Themen inhaltlich sehr deckungsgleich. Spielt es also keine Rolle, wen Reinach wählt?

Dollinger: Der Hauptunterschied zwischen uns beiden ist, dass ich seit 20 Jahren in der Reinacher Politik tätig bin. Ich habe es von der Pike auf gelernt, kenne die politischen Abläufe, die Akteure und die Verwaltungsprozesse, habe Führungsqualität bewiesen. Ich bin auch entsprechend vernetzt und parteiübergreifend anerkannt.

Pulver: Ich wohne seit 16 Jahren in Reinach, bin seit 27 Jahren Unternehmer und verfüge über enge Kontakte zur Wirtschaft und ein starkes Netzwerk im Kanton. Ich habe drei Jahre lang eine Kantonalpartei geführt und meine Führungsqualitäten gezeigt. Durch meinen Rücktritt als Präsident der Baselbieter FDP habe ich eine Verfügbarkeit, die ich gerne für Reinach einsetzen würde.

Haben Sie konkrete Rezepte, mit denen es der Gemeinde finanziell nachhaltig gut gehen wird? Sind Steuererhöhungen ein Thema, Christine Dollinger?

Dollinger: Im Moment sind Steuererhöhungen keine Option. Das wäre der falsche Augenblick, und es ist im Moment auch nicht notwendig. Wichtig ist, dass man eine langfristige Finanzplanung macht und dass man unterscheidet, was «nice to have» ist und was ein Must-have ist.

Wo wollen Sie den Gürtel enger schnallen, Ferdinand Pulver?

Pulver: Ich möchte vor allem die Einnahmeseite stärken. Reinach ist durch die Ergebnisverbesserung ein Stück weit ausgepresst. Es ist nicht zumutbar, in nächster Zeit mit neuen Vorschlägen zu kommen.

Dollinger: Da kann ich nur zustimmen. Die Ergebnisverbesserung war aber notwendig und hat zur Verbesserung der finanziellen Lage beigetragen. Trotzdem haben wir immer noch ein strukturelles Defizit. Dort, wo man schon etwas gemacht hat, ist die Schmerzgrenze erreicht. Man muss eher auf Ebene Effizienz schauen, ob man gewisse Abläufe effizienter gestalten kann.

Aus der Verwaltung ist immer wieder zu hören, dass sie personell knapp aufgestellt ist. Wären Sie bereit, neue Stellen zu schaffen?

Dollinger: Das muss jedes Mal sorgfältig abgewogen werden. Manchmal ergibt sich durch eine Pensionierung oder andere personelle Veränderungen die Möglichkeit, Arbeitsabläufe anzupassen. Es gibt immer wieder Verschiebungen, die darauf abzielen, dass man effizienter wird.

Pulver: Ich kann es für mein Ressort mit knapp 30 Personen sagen. Die Leute sind stark ausgelastet. Wir hatten Abgänge, der Arbeitsmarkt ist ausgetrocknet. Ich bin für diese Situation mitverantwortlich, weil ich sehr zurückhaltend betreffend Personalausbau war. Nun werde ich aber mit Stellenanträgen kommen müssen. Wenn man mich wählt, muss man wissen, dass ich Wert darauf lege, dass Reinach ein guter Arbeitgeber ist. Nur so bekommen wir weiterhin die guten Leute. Gute Leute machen gute Sachen in kurzer Zeit, stark vereinfacht gesagt.

Neue Quartiere bringen mehr Steuereinnahmen, belasten aber auch die ­Infrastruktur, zum Beispiel die Schu-len. Wie wird das Wachstum nicht zum ­Eigentor?

Pulver: Wir müssen die Infrastruktur weiter ausbauen, nur schon weil mehr Menschen in Reinach leben werden. Das heisst aber nicht zwangsläufig, dass das hohe Mehrkosten mit sich bringt. Aber das Wachstum hat seine Grenzen. Wenn alle Quartierpläne fertiggestellt sind, werden es wohl etwa 2000 Einwohnerinnen und Einwohner mehr als jetzt sein.

Dollinger: Ich verstehe sehr gut, wenn man das Gefühl hat, man sehe nur Baukräne und das Dorf sei verschwunden. Aber das ist der Lauf der Zeit. Wir sind aufgefordert, Reinach zu verdichten, auch um kurze Arbeitswege zu schaffen. Der Grüngürtel soll bestehen bleiben. Mir erscheint es wichtig, dass wir nicht ins Unermessliche bauen. Ich plädiere dafür, dass wir jene Quartierpläne, die aufgegleist sind, umsetzen, aber die anderen vorerst zurückstellen und eine Auslegeordnung machen.

Zum Abschluss: Welchem Thema oder welchem Problem widmen Sie sich als Erstes, wenn Sie gewählt sind?

Pulver: Ich würde überall, wo es klemmt, auf die beteiligten Leute zugehen, ein neues Kapitel aufschlagen. Ich habe eine Art, mit Leuten umzugehen, mit der das gelingen könnte. Jemand Neues kann auch immer etwas Neues bewirken. Ich spreche von Menschen, die in Reinach eine wichtige Rolle spielen, die mit der Gemeinde und der Verwaltung direkt nichts zu tun haben.

Dollinger: Als Erstes müssen wir die Geschäfte erledigen, die anstehen. Das ist gar nicht so visionär. Wir sind am Jahres- und Entwicklungsplan, der bis zu den Herbstferien stehen muss. Das Reinach-Fest steht an. Das Fest ist eine Möglichkeit, uns regional zu zeigen und zu vernetzen.

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