Reinachs neuer Gemeindepräsident ist voller Tatendrang
Ferdinand Pulver möchte als Reinacher Gemeindepräsident nicht nur für politische und menschliche Kontinuität sorgen, sondern auch ein Vorbild und Botschafter für Menschen mit einer Beeinträchtigung sein.
In der Gartenanlage des Wohn- und Bürozentrums für Körperbehinderte (WBZ) blüht und summt es. Bewohnerinnen und Bewohner spazieren selbstständig am Rollator oder fahren mit Unterstützung im Rollstuhl zwischen den grünen Hecken durch und an den Hochbeeten vorbei. Ferdinand Pulver blickt zufrieden über die Anlage des Neubaus, den er als Stiftungsrats-Vizepräsident des WBZ eng begleitet hat.
Das WBZ ebnete dem neuen Reinacher Gemeindepräsidenten den Weg in die Politik. Als er den Entschluss fasste, die Arbeit in seinem Unternehmen für visuelle Kommunikation langsam zurückzufahren und sich vermehrt mit Menschen mit einer Beeinträchtigung zu befassen, näherte sich der mittlerweile 59‑Jährige dem WBZ an. So kam er mit Personen aus der Reinacher FDP in Kontakt. «Ohne das WBZ wäre ich nicht in die Politik gekommen», sagt Pulver rückblickend.
Der politische Weg führte den Freisinnigen 2020 direkt in den Gemeinderat. Dass er nicht den klassischen Werdegang über den Einwohnerrat genommen hat, sieht Pulver heute als Vorteil. «Ich kam ohne alte Geschichten in den Gemeinderat und konnte sämtliche Themen aus einem neuen Blickwinkel betrachten. Das hat mir als Gemeinderat geholfen und wird mir auch als Gemeindepräsident helfen.»
Klare Ansagen, aber kein autoritärer Führungsstil
Ferdinand Pulver wohnt seit 2008 in Reinach. Aufgewachsen ist er in Allschwil. Obwohl ihm nicht alles gefalle – Stichwort Bausünden aus den 1960er- und 1970er-Jahren –, sei ihm Reinach schnell ans Herz gewachsen. Die zweitgrösste Gemeinde des Kantons als Präsident repräsentieren zu dürfen, erfülle ihn mit Freude und Stolz. Pulver sieht seine Stärken zwar im Dialog und in der Kommunikation, doch in Sachen Rhetorik müsse er noch zulegen. «Es ist nicht das Gleiche, mit Leuten direkt über einen gewissen Inhalt zu sprechen oder eine spannende Ansprache zu halten.»
Im Gemeinderat möchte Pulver für Kontinuität und Stabilität sorgen – sowohl politisch wie auch menschlich. Er habe von seinem Vorgänger und Parteikollegen Melchior Buchs viel lernen können. In Sachen Führungsstil setzt Pulver auf einen partizipativen Ansatz. Ob Mitglieder des Gemeinderats, Verwaltungsmitarbeitende oder auch die Bevölkerung – der neue Gemeindepräsident will den Menschen Freiheiten lassen und nicht autoritär auftreten. Er könne aber auch bestimmt sein, betont Pulver. «Ich hoffe aber, dass ich das nicht muss.»
Pulver ist eine anständige Diskussionskultur wichtig. Das wurde auch im Wahlkampf klar. Öffentliche Auseinandersetzungen seien ihm fremd. «Das wird es in dieser Konstellation nicht geben. Der Gemeinderat wird weiterhin als Team auftreten.»
Immer wieder mit Hindernissen im Alltag konfrontiert
Der Zeitpunkt für das Amt als Gemeindepräsident ist für Pulver optimal. Im Herbst endet seine Amtszeit als Präsident der Baselbieter FDP. «Ich kann meine ganze Zeit und meine ganze Energie für Reinach einsetzen.» Als Paraplegiker müsse er seine Energie aber einteilen. «Es braucht ein gutes Ressourcenmanagement», pflegt Pulver zu sagen. Mit seiner Behinderung geht der neue Reinacher Gemeindepräsident offen um. Im Nationalratswahlkampf machte er die Inklusion und Integration von Menschen mit einer Beeinträchtigung zu einem seiner Kernthemen. Es sei essenziell, dass sich Menschen mit einer Beeinträchtigung politisch engagieren könnten. Dass dies oftmals mit Hindernissen verbunden ist, zeigt Pulvers Beispiel selber.
So bei der finanziellen Absicherung über seine Unfallrente, die er seit seinem verhängnisvollen Motorradunfall erhält: Nimmt Pulver ein neues Amt an, muss er dies der Invalidenversicherung melden. Die Gefahr bestehe immer, dass seine Rente gekürzt werde.
Dieses Risiko halte viele Menschen mit einer Beeinträchtigung von politischen Ämtern ab, glaubt Pulver. Das dürfe nicht sein. Auch geht es um alltägliche Hindernisse für ihn als Rollstuhlfahrer: Hält Pulver auf einer Bühne eine Ansprache, muss diese rollstuhlgängig sein. Das Hinaufheben habe nichts mit Inklusion zu tun und sei erst noch gefährlich. Manchmal stosse er auf Überforderung, wenn er frage, ob der Anlass rollstuhlgängig sei. Verstecken will sich Pulver trotz der Schwierigkeiten nicht. «Ich sehe mich auch als Vorbild und Botschafter, dass es Menschen mit einer körperlichen Behinderung in der Politik weit bringen können.»
Dass es nicht selbstverständlich sei, dass Ferdinand Pulver mit seiner Paraplegie so selbstständig leben könne, zeigten Beispiele aus dem WBZ, sagt der 59‑Jährige. Ein starkes Gefühl von Freiheit gibt Pulver das Gleitschirmfliegen. Dafür brauche er neben Anpassungen an seinem Rollstuhl nur jemanden, der seinen Schirm korrekt auslege und vor dem Start die Bremsen löse. Schirm aufziehen und einfach losfliegen: «Ein fantastisches Gefühl», schwärmt Pulver. In der Region ist er oft mit seinem Handbike unterwegs. Auf verschiedenen Routen – oft stundenlang – sucht er Erholung und eine sportliche Betätigung, die für den Ex-Fussballer und Trainer noch immer grossen Wert geniesst.
Motiviert – auch bei unangenehmen Themen
Politisch steht Reinach vor grossen Herausforderungen. Das strukturelle Defizit schränkt den Handlungsspielraum der Gemeinde noch immer ein. Das Industrie- und Gewerbegebiet Kägen braucht eine Aufwertung und wieder mehr Wertschöpfung. Die Revision des Richtplans soll genauso wie die Entwicklung des Stadtparks in enger Begleitung durch die Bevölkerung erfolgen. Auf diese Diskussionen freut sich Pulver besonders. Eine Chance sieht der neue Gemeindepräsident in der notwendigen Klimaadaption – durch eine gut gemachte Begrünung und Befeuchtung werde Reinach schöner und attraktiver.
Weniger Begeisterung löst bei Pulver die Überbauung Buchhain am Waldrand aus. Egal, wie man zu der vereinfachten Quartierplanung stehe, die rechtlichen Voraussetzungen seien klar, sagt Pulver. Er zeigt sich voller Tatendrang, auch die unangenehmen Themen anzugehen.