«Innen bin ich ganz allein»

Mit dem Stück «Ego» begeht das generationenübergreifende Theater «Wechselstrom» zusammen mit der Reinacher Gruppe «tiramisù» das 10-Jahr-Jubiläum. Die Eigenproduktion besticht durch Humor, Vielfalt und Tiefe.

Wandlung: Das Stadt-Girl (Selina Schällebaum) findet auf dem Hof des Bauern (Markus Meyer) durch Berührung einer Kuh zu sich selbst.  Foto: Thomas Brunnschweiler
Wandlung: Das Stadt-Girl (Selina Schällebaum) findet auf dem Hof des Bauern (Markus Meyer) durch Berührung einer Kuh zu sich selbst. Foto: Thomas Brunnschweiler

Thomas Brunnschweiler

Sigmund Freud hat uns gelehrt, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, und heute hält die Hirnforschung das Ego für ein reines Konstrukt, das nicht lokalisierbar ist. Dennoch oder gerade deshalb beschäftigt uns das Ich brennend. Wer sind wir? Wie verändert die Zeit das scheinbar unveränderliche Ich? Solchen Fragen sind die Schauspielerinnen und Schauspieler von «Wechselstrom» aus Basel und «tiramisù» aus Reinach nachgegangen. Am letzten Samstagabend fand in der Aula des Bildungszentrums kvBL die Premiere für das erwachsene Publikum statt.

Integratives Theater
Das integrative Theaterprojekt «Wechselstrom» wurde 2004 von Prisca Sager und Antonio Turchiarelli gegründet. Schon 2007 erhielten die beiden Theaterpädagogen dafür den 13. Schappo der Stadt Basel.
Für Priska Sager eröffnet das Projekt einen neuen Zugang zu sich selbst und den Mitmenschen, erhöht die Körperwahrnehmung, schärft die Sprache und fördert Selbstbewusstsein sowie Sozialkompetenz. Im Jubiläumsjahr haben sich «Wechselstrom» aus Basel und Antonio Turchiarellis Ensemble «tiramisù» aus Reinach zusammengeschlossen, um sich mit dem «Ego» auseinanderzusetzen. Die fünfzehn Schauspielerinnen und Schauspieler zwischen 17 und 77 profitieren alle von diesem prozessorientierten Projekt. Im Spiel lernt man sich selbst und andere kennen, Ängste überwinden, frei reden und innere Grenzen sprengen. Auch das diesjährige Spiel ist aus Improvisationen entstanden. Es ist Episodentheater, das von den Facetten der Mitspielenden lebt.

Groteske, Romanze, Satire
Die Szenen greifen teils reale Alltagserfahrungen auf, teils führen sie in fast groteske Situationen, wie die, in welcher der vermeintliche Kaiser von Österreich (Mike Ritter, 19) bei einem Archivar (Jonas Heinrichs) seinen Stammbaum abklären lassen will. Witzig ist eine Szene in einem stecken gebliebenen Lift, in dem sich Selina Schällebaum und Ruben ten Cate näherkommen. Hier erfährt man: «Auch die teuerste Fassade bröckelt einmal ab … innen bin ich ganz allein».

Markus Meyer mimt gekonnt den technologiefeindlichen Bauern, bei dem der penetrante Tourist und Nerd – an der Premiere ausnahmsweise gespielt von Antonio Turchiarelli – mit seinen 5900 Friends auf Facebooks auf Granit beisst. Giulia Plozner verkörpert überzeugend die unbarmherzige Geschäftsfrau, die von einem Clochard (Silas Glaser, der auch singt) in ein Gespräch verwickelt wird. Markus Locher spielt den übereifrigen Herrn Deutsch vom Fernsehen, dessen kritische Einwände von der Regie gekappt werden. Und ein blutjunger Mann (Nick Huber) sucht ein Date mit einer Unbekannten (Susann Müller, 77).

Die homogene schauspielerische Leistung aller wurde an der Premiere stark beklatscht. Das Stück überzeugt durch den Mix von Tanz, Musik, ernsten Augenblicken und kabarettistisch angelegten Szenen. Es ist so vielfältig wie das ungreifbar bleibende menschliche Ich.

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