«Ich kann alles machen»
Janine Schöpfer leidet seit ihrer Geburt an einer Missbildung ihres linken Arms. Trotz Handicap lässt sie sich nicht behindern und schloss soeben ihre Ausbildung zur medizinischen Praxisassistentin mit der Note 5,0 ab.

Jay Altenbach
In der Praxis Reinacherhof kommt mir eine junge blonde Frau entgegen und stellt sich als Janine Schöpfer vor. Im ersten Moment überlege ich, was denn ihr Handicap sein soll, bis mir auffällt, dass ihr an einem Arm das Handgelenk und die Hand fehlt. Wie kann sie nur Schuhe binden, eine Spritze setzen, Blut abnehmen, im OP assistieren oder Arztberichte tippen? Sie kann und demonstriert es sogleich.
So hat sie auch den Arzt in der Praxis Reinacherhof nach zwei Schnuppertagen überzeugt, ihr eine Lehrstelle zu geben. «Sie hatte in ihrer Bewerbung nicht erwähnt, dass sie ein Handicap hat», erinnert sich Dr. Heini Grob. «Aber während des Praktikums hat sie alles gemacht, was wir ihr aufgetragen haben. Beim abschliessenden Gespräch antwortete sie auf die Frage, was sie nicht könne, sie könne alles.»
Die Ärzte und die medizinischen Praxisassistentinnen entschieden gemeinsam, dass Janine eine Chance bekommen soll. Am 3. Dezember vor drei Jahren erhielt Janine endlich den erlösenden Anruf. Nach über 150 Bewerbungen hat sie es endlich geschafft. Ihr grösster Wunsch ging in Erfüllung und sie hatte endlich einen Ausbildungsplatz.
Hoffnung nie aufgegeben
«Die Bewerbungsphase war schlimm», sagt die Mutter von Janine rückblickend. Die guten Noten von Janine hätten ihr Handicap nicht wettmachen können. Sie habe Janine häufig chauffiert und oft kam sie mit einem guten Gefühl von einem Gespräch zurück und dann seien die Unterlagen am nächsten Tag mit einer Absage retourniert worden.
«In einem öffentlichen Spital im Kanton Baselland sagte mir die Personalassistentin, ich sei eine Zumutung für die Patienten, die hier gesund werden sollen», erzählt Janine und es ist ihr anzusehen, wie tief sie diese Aussage getroffen hat. Alle reden von Integration, aber wer will integrieren? Deshalb sind Janines Eltern dem Praxisteam Reinacherhof auch sehr dankbar. Ohne sie hätte Janine vielleicht nie die Chance gehabt, ihr Können unter Beweis zu stellen und zu bestehen.
Patienten reagieren positiv
Das Praxisteam hat das Handicap von Janine schnell vergessen und die Patienten sind interessiert. «Es ist mir recht, wenn die Leute mit mir reden und Fragen stellen. So kann ich mein Handicap allen erklären.» Sie habe zudem eine tolle Lehrmeisterin gehabt, die sie überall unterstützt habe. Gut sei auch der Umgang mit den anderen Praxis-Assistentinnen. Der Betrieb ist so organisiert, dass alle alles machen und Janine wird wie jede Mitarbeiterin überall eingeteilt. Mit ihrer Arbeitskollegin im gleichen Lehrjahr sei sie zudem auch in der Freizeit unterwegs und sie würden zusammen Shoppen oder in den Ausgang gehen.
«Ich kann wirklich alles», sagt Janine lachend und demonstriert sogleich, wie sie Schuhe binden kann.
Sie beherrscht nicht das Zehnfinger- sondern das Fünffingersystem und ist damit ausserordentlich schnell. Das «Ärmchen», wie sie den linken Arm ohne Hand nennt, benutzt sie für die Sonderzeichen auf der Tastatur. Ihre Mutter erklärt, dass sie sich nie hätte behindern lassen. Mit drei Monaten sei sie mit Janine ins Babyschwimmen gegangen, Velofahren sei, dank eines innovativen Velomechanikers, kein Problem wie auch Snowboarden.
Janine hat ihren Weg gefunden. Sie möchte allen, die sich in ähnlicher Lage befinden, Mut machen und der Gesellschaft aufzeigen, dass jeder Mensch eine Chance erhalten sollte.