«Vor 15 Jahren hätte ich gesagt, das ist unmöglich»
Reto W. Kressig ist Chief Medical Officer am Felix Platter-Spital in Basel und hat sich auf Geriatrie sowie Ernährungsmedizin spezialisiert. Im Interview erklärt der «King of the egg», warum die Proteinzufuhr im Alter deutlich erhöht werden sollte – und wieso Betty Bossi erst nichts von seiner Kochbuch-Idee wissen wollte.
Herr Prof. Kressig, Sie halten an der Seniorenmesse in Reinach einen Vortrag mit dem Titel «Gesund älter werden». Warum zieht es Sie nach Reinach?
Weil es eine Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit älteren Menschen ist, die sich dafür interessieren, wie sie ihren Alterungsprozess noch besser meistern können. Es ist eine Gelegenheit, die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse in diesem Bereich der Bevölkerung näherzubringen. Ich trete gerne etwas aus dem akademischen Elfenbeinturm heraus. Die Altersmedizin hat in den letzten 20 Jahren viele neue Forschungsergebnisse hervorgebracht, die gerade für die Babyboomer-Generation einen massgeblichen Unterschied machen können.
Was sind Ihre Kernanliegen in Bezug auf die Altersmedizin?
Dass wir eine Medizin betreiben, die – anders als andere Disziplinen – ganzheitlich vorgeht. Weniger kann auch mehr sein, ich denke da zum Beispiel an Medikamente oder Untersuchungen, die teilweise nicht nötig sind, wenn der Lebensstil angepasst wird. Wir können die Lebensqualität oft mit einfachen Mitteln verbessern.
In welchen Bereichen?
Medizinisch achten wir besonders auf drei Dinge: Blutdruck, Cholesterin und Blutzuckerspiegel. Ein zu hoher Blutdruck ist ein Risikofaktor. Wenn wir ihn senken, kann das schon viel bewirken. Allgemein: Bei allen Risikofaktoren, die Gefässe betreffen, sind wir ‹scharfe Hunde›. Auch erhöhtes Cholesterin ist schädlich, es kompromittiert den gesunden Alterungsprozess massgeblich. Ebenso ist es bei Diabetes. Es kann lange Zeit unbemerkt vorhanden sein und dem Körper schaden.
Sie legen auch einen Fokus auf gesunde Ernährung. Das ist ja eine allgemeine Empfehlung. Warum ist das denn besonders im Alter wichtig?
Die Forschung der letzten zehn Jahre hat gezeigt, dass wir im Alter andere Ernährungsbedürfnisse haben, als dies in den bisher propagierten Guidelines für Erwachsene abgedeckt ist. Ältere Menschen brauchen etwa einen Viertel weniger Kalorien als jüngere Erwachsene. Und die für mich wichtigste Erkenntnis ist, dass der ältere Muskel etwa 50 Prozent mehr Proteine braucht, damit er nicht an Kraft verliert. Ein jüngerer Erwachsener braucht etwa 0,8 Gramm Eiweiss pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag. Ein gesunder Senior braucht hingegen etwa 1,2 Gramm pro Kilo Körpergewicht am Tag. Kommen chronische Krankheiten dazu, benötigt der Körper noch mehr. Denn diese Krankheiten führen zu Entzündungen im Körper, die den Alterungsprozess und den Muskelabbau zusätzlich fördern. Faszinierenderweise kann man den Muskelabbau durch erhöhte Proteinzufuhr stoppen oder den Muskel sogar wieder aufbauen. Wenn man mir das vor 15 Jahren gesagt hätte, hätte ich gesagt, das ist unmöglich.
Warum?
In meiner Ausbildung habe ich nicht gelernt, dass der Muskel mit dem Alter abnimmt. Frauen piesackt man seit vielen Jahren mit Osteoporosevorsorge, aber dass auch der Muskelabbau verhindert werden kann, ist völlig neu. Deshalb habe ich das auch beim Bundesamt für Gesundheit und beim Bundesamt für Landwirtschaft und Veterinärwesen in Bern angebracht. Dort hiess es aber, für eine entsprechende Kampagne sei kein Geld vorhanden. Ich fühle mich verpflichtet, diese Informationen an die betroffene Bevölkerung weiterzugeben. Deshalb halte ich Vorträge vor Laien und vor Fachpublikum.
Sollten wir denn nun alle den Fleischkonsum erhöhen?
Proteine verbindet man immer mit Fleisch, aber das ist eigentlich falsch. Nüsse enthalten z. B. mehr Protein als Fleisch, und die darin enthaltenen Fette sind erst noch gesund. Das sind gute Kalorien. Ich bin auch ein Verfechter der Proteine von Milchprodukten und Eiern. Die Schriftstellerin Donna Leon hat mich in einer Widmung in einem Buch mal als «King of the egg» bezeichnet. Wichtig ist mir, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse einfach im Alltag umsetzbar sind. Essen ist ein sozialer Event und muss Freude machen. Deshalb habe ich auch Kontakt aufgenommen mit Betty Bossi, um ein Kochbuch zu realisieren.
Und wie war die Reaktion bei Betty Bossi?
Zuerst war die Rückmeldung eher negativ. Es gäbe schon so viele Kochbücher, und die Menschen würden nicht über ihre Muskeln lesen wollen. Doch der junge CEO war sehr interessiert und wollte mehr wissen. Entstanden ist dann kein Kochbuch, aber ein Heft mit dem Titel «gesund & stark», finanziert durch die Felix Platter-Stiftung, die wir kurz vor Corona gegründet haben. Doch die finanzielle Situation ist schwierig, der Stiftung fehlt das Geld. Ich habe dennoch schon das nächste Heft geplant, das «gesund & smart» heissen soll. Denn es gibt auch sehr gute wissenschaftliche Daten, wie die Ernährung die Hirngesundheit beeinflusst.
Das bringt mich zu einem Vortrag, den Sie zum Thema Mindfulness gehalten haben. Was ist das?
Während Corona haben wir gemerkt, dass das soziale Wohlbefinden bei vielen Menschen gelitten hat. Mindfulness ist in dieser Zeit populär geworden. Der Dalai Lama praktiziert Mindfulness seit Jahren – es ist eigentlich eine Form der Meditation. Man versucht einen Moment im Tag, sich auf etwas Spezifisches wie z. B. die Atmung zu konzentrieren.
Warum ist Mindfulness wichtig?
Viele Studien zeigen, dass Menschen, die solche Übungen regelmässig machen, eine höhere Hirnleistung zeigen. Sie sind weniger depressiv, sind interessierter und denken schneller. Das ist etwas, was den Alterungsprozess positiv unterstützt. Es scheint, als würden diese Menschen auch glücklicher älter. Und ältere Menschen haben oft auch mehr Mindfulness als jüngere.
Machen Sie diese Übungen selbst auch?
Ja, wenn immer möglich nehme ich mir über den Mittag zehn Minuten Zeit für solche Konzentrationsübungen. Ich gebe zu, es ist schwierig. Aber es lohnt sich.
Können wir unser Hirn nicht auch mit Übungen aus dem Internet trainieren?
Ja, aber dabei trainieren Sie immer nur die im Programm spezifisch gestellte Aufgabe ohne Transfer auf die Gesamthirnleistung. Wenn Sie hingegen kognitive Übungen mit Bewegung verbinden (wie z. B. beim Tanzen), nimmt die Gesamthirnleistung zu. Ich bin ein grosser Fan der Dalcroze-Rhythmik, die ich vor über 20 Jahren in Genf für Senioren entdeckt habe. Inzwischen wird sie in der ganzen Schweiz und auch in jedem Quartier in Basel im Café Balance angeboten. Unterstützt wird meine Initiative vom Gesundheitsdepartement Basel-Stadt. Die Dalcroze-Rhythmik verbindet am Klavier gespielte Musik mit bestimmten Bewegungen, die unerwartet im Wechsel mit der Musik verändert werden müssen. Wir haben gesehen, dass sich die Fähigkeit des Multitaskings mit diesen Übungen massiv verbessert hat und das Sturzrisiko über 50 Prozent sinkt. Sogar bei Demenzkranken verbessern sich die Orientierung und die sprachlichen Fähigkeiten wieder.
Nützt denn eine Umstellung der Lebensgewohnheiten, wenn man bisher eher ungesund gegessen und wenig Sport getrieben hat?
Absolut, es ist nie zu spät. Man darf auch weiterhin Schokolade geniessen. Das Problem solcher leeren Kalorien, also solche, die nur wenig Nährstoffe beinhalten, ist, dass sie – wenn nicht sofort durch körperliche Aktivität verbrannt – in Körperfett eingelagert werden. Und gerade im Alter ist es sehr schwierig, dieses Fett dann wieder zu mobilisieren. Dennoch verbiete ich meinen Patienten und Patientinnen konventionelle Abmagerungskuren: Sie bauen dabei primär Muskeln ab, was ungesund oder sogar gefährlich ist. Abnehmen sollte man nur mit der professionellen Unterstützung von Ernährungstherapeuten, da es alles andere als einfach ist, den Körper trotzdem mit den notwendigen Nährstoffen zu versorgen. Die gute Nachricht ist hier, dass etwas «Gewichtsvorrat» im Alter (BMI zwischen 25 und 30) wissenschaftlich mit der besten Lebensprognose verknüpft ist.
Es scheint, als würden wir immer älter und als wären viele Menschen auch im hohen Alter noch sehr fit. Ist das so?
Es freut mich, dass Sie das so sagen, weil viele das nicht wahrhaben wollen. Fakt ist: Im Vergleich zu vor 20 Jahren geht es den 80-Jährigen heute deutlich besser. Auch die Häufigkeit von Alzheimererkrankungen hat um etwa die Hälfte abgenommen. Allerdings haben wir heute deutlich mehr alte Menschen, deshalb ist dieser Effekt nicht deutlich spürbar.
Und wird dieser Trend des gesunden Alterns weitergehen?
Da bin ich mir tatsächlich nicht so sicher. Die Raucherquoten gehen wieder hoch. Ein weiteres grosses Problem ist Übergewicht. Viele junge Menschen ernähren sich ungesund, und ich habe Angst, dass wir diesen Fortschritt, den wir mit den Babyboomern erreicht haben, wieder verlieren. Aber das ist reine Spekulation, weil ich glaube, dass die Ernährung ein wesentlicher Treiber des Alterungsprozesses ist.
Also sind wir auch ein Stück weit selbst schuld, wenn wir im Alter krank werden?
Man muss unterscheiden zwischen Krankheit und Alterungsprozess. Früher sagte man, es sei genetisch bestimmt, wie gut man altere, dabei machen Gene nur rund 20 Prozent aus. Wir haben den Alterungsprozess also grösstenteils selbst mit der Wahl unseres Lebensstils in der Hand. Das Alter per se kreiert keine Krankheiten, aber es ist ein Risikofaktor. Dennoch wird man im Alter nicht automatisch krank. Bei akuten Erkrankungen finde ich es falsch, die Schuld bei sich selbst zu suchen.
Reinacher Seniorenmesse am 4. November
Zum ersten Mal findet in Reinach am Samstag, 4. November, eine Messe statt, die sich ganz den Seniorinnen und Senioren widmet. In der Weiermatthalle gibt es von 10 bis 16 Uhr Infostände, Marktstände, Vorträge und ein Bistro. Vor Ort sind 26 Vereine, Firmen und Organisationen.
Zwischen 9.30 und 15.30 Uhr verkehrt ein kostenloser Shuttlebus von der Haltestelle Lochacker bis ins Messegelände und retour.
Um 10 Uhr findet die Show «Sicher stehen und gehen» mit Adrian Näf (Gesundheitsförderung BL), den Aloha Linedancers und Vitaswiss Reinach-Aesch in der Aula statt. Um 11.15 und 13.30 Uhr lädt Modeva zur Modeschau. Schliesslich hält Prof. Dr. med. Reto W. Kressig, Chief Medical Officer der Universitären Altersmedizin Felix Platter und Lehrstuhlinhaber für Geriatrie an der Universität Basel, einen Vortrag zum Thema «Gesund älter werden» in der Aula.
Der Eintritt ist frei. Wegen Bauarbeiten ist der Parkplatz hinter der Weiermatthalle geschlossen. Kein Parkplatz auf dem Schulhof.