Hochöfen und Hochgeistiges

Im Ersten Weltkrieg treffen in Dornach Sinn­suchende und Kriegsgewinnler aufeinander. «Zünder» bringt beide auf die Bühne.

Auf Augenhöhe: Serge (Ilja Baumeier) und Kleopha (Xenia Assenza). In der Mitte sitzend: Fritz (Rowan Blockey). Ganz rechts: Sophie (Regina Leitner). Foto: zvg

Diesen Auftritt vor der Premiere seines Stücks «Zünder» hätte sich Patrick Tschan wohl gerne erspart: Vor ausverkauftem Saal entschuldigte sich der Autor und Theatermacher für einen Zeitungsartikel, in dem er sich am Vortag kritisch zu Rudolf Steiner geäussert hatte: Er halte den Begründer der Anthroposophie für einen «Scharlatan», liess sich Tschan von der «Zeit» zitieren – ein Fehler, wie er eingesteht. «Ich halte Steiner für eine umstrittene Figur, die aber Grosses geschaffen hat und noch immer schafft», sagt Tschan, «sonst wären wir jetzt kaum hier.» Hier, das ist der hölzerne Schreinersaal des Goetheanums Dornach, im Herzen der Anthroposophie, wo an diesem drückend warmen Donnerstagabend die Premiere trotz Schreckmoment stattfindet: Zum Glück, würde man dieses engagiert gespielte Stück an seinen Originalschauplätzen doch nicht missen wollen.

Oben die Idealisten, unten die Gschäftlimacher

Was die Anthroposophie im einstigen Holztempel auf dem Dornacher Bluthügel «entzünden» will, ist die Menschenliebe, schrieb Rudolf Steiner einst, der im Stück selbst abwesend bleibt. Die Schweizerischen Metallwerke im Birstal, die während des Ersten Weltkrieges Munitionsbestandteile herstellen, verlegen sich dagegen auf das Zünden von Granaten: Jahrelang sei man mit der Produktion von Uhrgehäusen knapp am Konkurs vorbeigeschrammt. «Doch jetzt ist Krieg, jetzt ist gut», sagt der Vizedirektor – auch der Direktor ist auf Reisen.

Fabrik und Tempel – zwischen den beiden Standorten pendelt der Ortsbus auf einer Extrafahrt, denn die Inszenierung von «Zünder» ist zweiteilig: oben auf dem Hügel der Idealismus, unten der Pragmatismus der Kriegsgewinnler. Dazwischen das Dorf, das sich verdutzt die Augen reibt: Die «Metalli» empfängt ranghohe Militärs mit Pauken und Trompeten, und zwar beidseits des Schützengrabens, man ist schliesslich neutral. Und auf dem Bluthügel – wird getanzt!

«Nicht so, Kindchen», weist die erfahrene Eurythmistin Sophie (Regina Leitner) ihre Nichte zurecht: Kleopha (Xenia Assenza) soll die Todessehnsucht eines Novalis-Gedichtes tanzen, doch in ihren Bewegungen steckt zu wenig Geist. «Ich sehe keine Worte, keine Sätze», tadelt die Tante. Die sieht Munitionsdreher Serge (Ilja Baumeier) von seinem Versteck aus auch nicht. Dafür aber eine junge Frau, die gegen gesellschaftliche Zwänge aufbegehrt.

Ein Posamenter im Ideenhimmel

Die beiden adligen Frauen sind aus Deutschland und Österreich nach Dornach gekommen, um ein höheres Prinzip zu finden, das Himmel und Erde verbindet – eine «Vertikale», wie Sophie es nennt. Für den Elsässer und Religionsverächter Serge ist das der elterliche Weinberg, den er von den Deutschen zurückerobern möchte. Sein Arbeitskollege Fritz (Rowan Blockey) legt sich da weniger fest.

Der ehemalige Posamenter aus dem Fünflibertal, der Serge nur zögerlich aus dem Versteck folgt, um sich mit den Anthroposophinnen zu unterhalten, findet Gefallen an der Vorstellung, Dinge zu sehen, die sonst nicht zu sehen sind. Während Klassenkämpfer Serge und die temperamentvolle Kleopha auf Anhieb Feuer und Flamme sind, verliebt sich der verschupfte Fritz erstmals in eine Idee – und auch ein bisschen in die weltläufige Sophie.

In diesen fiktiven, widersprüchlichen Paarungen führt «Zünder» (Regie: Georg Darvas) die Zerrissenheit Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor, aber auch den Willen der Reformbewegungen, durch diese Risse ein verklärtes Licht auf die Menschheit fallen zu lassen. Hilfskräfte aus 18 Nationen würden friedlich am Bau des Tempels arbeiten, sagt Sophie, und mit Seitenblick auf Fritz: auch Arbeiter aus Dornach. Doch ganz so harmonisch ist das Leben auf dem Hügel nicht. Eine zunächst gesellige Arbeitspause, zu der auch Serge und Fritz geladen sind, schaukelt sich zum dissonanten Wettsingen unzähliger Nationalhymnen hoch und gipfelt in einem feurigen Appell an die Menschlichkeit, mit dem der erste Teil des Theaterabends beschlossen wird. Nach einer kurzen Verpflegung fährt der Bus das Publikum ins Tal zu den Metallwerken.

Pauken und Trompeten bei der Ankunft, der Musikverein Concordia empfängt die Gäste wie bei einem Staats­besuch. Und auch im Inneren der ­metallisch riechenden Lagerhalle, wo vor eindrücklicher Kulisse eine Tribüne für 200 Menschen aufgebaut wurde, klingt es. Der Kinderchor der Musikschule ­Dornach besingt mit glockenklaren Stimmen die Hochöfen, die der Krieg zum Kochen bringt: Klug in die professionelle Grossproduktion miteinbezogen, sorgt das lokale Kulturleben für Gänsehaut­momente.

Die Menschen, die an diesem Ort geformt werden, tanzen nicht, sie «chrampfen»: Das stumpfe Zusammenschrauben von Granatzündern in Zehn-Stunden-Schichten wird nur für die Inspektion französischer und deutscher Kontrolleure unterbrochen, bei der die Belegschaft fähnchenschwingend strammsteht. Die verfeindeten Mächte wollen sicherstellen, dass kein Kriegsmaterial für die Gegenseite hergestellt wird. Vizedirektor Bühlmann (Guillermo Garcia) verbittet sich diesen Verdacht und unterschlägt gleichzeitig die Geschäftsbücher, die das Gegenteil belegen.

Weltkrieg und Weltanschauung

Die Munitionsdreher Serge und Fritz sind hier auf verlorenem Posten. Fritz, weil es ihn seit dem Besuch auf den Bluthügel in die Vertikale zieht. Und Serge, der den französischen Sieg gegen die «Sauschwaben» herbeisehnt, weil die skrupellosen Geschäfte der Metallwerke den Krieg verlängern. «Ihr habt euren Lohn und wir die Toten», beklagt er sich beim Posamenter.

Als gegen elf Uhr abends der wohlverdiente Premierenapplaus aufbrandet, ist der Erste Weltkrieg zwar immer noch nicht vorbei, aber die Hauptprotagonisten haben zumindest ihre persönlichen Fronten geklärt. Zwei Stunden lang hat das Publikum mitgelitten und -gelacht: Fritz, dem kurligen Underdog mit Tiefgang, fliegen die Sympathien nur so zu.

«Zünder» zeichnet ein vielschichtiges Zeitbild, das vor dem Hintergrund aktueller Konflikte noch an Dringlichkeit gewinnt. Vor allem aber ergründet es auf packende Weise, wie das Grosse mit dem Kleinen, ein Weltkrieg und eine Weltanschauung mit Dornach zusammenhängen. Patrick Tschan mag der Anthroposophie gegenüber kritisch eingestellt sein. Seine vertikale Verknüpfung von Bluthügel und Birstal lässt aber auch sie in einem neuen Licht erscheinen.

«Zünder»: Fr, 23., Sa, 24., So, 25. August, Fr, 30., Sa, 31. August und So, 1. September. Die Vorstellung beginnt im Shuttle-Bus. Spielzeiten und Tickets siehe: zuender-dornach.ch/infos/

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