Bundesgericht weist letzte Beschwerde im Fall «Nathalie» ab
Ein Mädchen ist überzeugt, vom eigenen Vater missbraucht zu werden. Im Laufe der Ermittlungen werden die Vorwürfe immer extremer. Nur: Sie stimmen gar nicht. Nun beschäftigte sich das Bundesgericht mit dem Fall «Nathalie» – und gewährt Einblicke in die Ermittlungen.
Seit bald vier Jahren beschäftigt der Fall «Nathalie» (der Name ist erfunden) die Strafverfolgungsbehörden und die Justiz. Was als Sorgerechtsstreit begann, entwickelte sich zu einer Familientragödie. Ein Mädchen, das glaubt, es sei vom eigenen Vater missbraucht worden. Die Mutter, die glaubt, es gebe eine kinderschändende und -mordende Elite in der Schweiz, unentdeckt, die satanistische Rituale durchführt. Und eine Hetzjagd der Medien gegen einen unschuldigen Vater. Nun ist der Fall, zumindest für die Justiz, abgeschlossen. Das Bundesgericht hat eine letzte Beschwerde der Mutter des Mädchens abgewiesen. Damit ist höchstrichterlich bestätigt: Die Solothurner Staatsanwaltschaft hat das Verfahren gegen den Vater des Mädchens zu Recht eingestellt, weil sie nach zweijährigen Ermittlungen keinerlei Hinweise auf strafbare Handlungen gefunden hat.
2019 wurden erste Vorwürfe geäussert
Zurück ins Jahr 2019. Nathalies Mutter zeigt ihren Ex-Mann an. Dies, nachdem die damals siebenjährige Nathalie ihr gegenüber mögliche sexuelle Übergriffe durch den Vater erwähnt hat. Im Frühjahr 2020 trägt die Frau aus dem Schwarzbubenland die Vorwürfe an die Medien. Nun nehmen die Geschichten ganz neue Dimensionen an. Wurde zu Beginn sexueller Missbrauch nur angedeutet, werden die Vorwürfe immer heftiger – und abstruser. Insgesamt 16 Mal wendet sich Nathalies Mutter während der Ermittlungen mit neuen Vorwürfen an die Staatsanwaltschaft – mit Aussagen ihrer Tochter über Dinge, die ihr angeblich angetan wurden. Von ganzen Gruppen von Männern ist nun die Rede, die Kinder reihenweise missbrauchen, unter anderem an einem Seeufer. Jetzt werden zudem auch satanistische Rituale erwähnt: Kinder, die ermordet und auf Altären verbrannt werden.
Hintergrund des Ganzen ist die Verschwörungstheorie «Satanic Panic». Die Theorie stammt ursprünglich aus Nordamerika, ihr sind aber auch in der Schweiz mehrere Personen anheimgefallen. Es gibt Menschen, die überzeugt sind, dass es eine Elite aus Politikern, Anwälten und anderen einflussreichen Personen gibt, die im Geheimen satanistische Rituale durchführen und unter anderem Kinder opfern. Und dies, obwohl es in der Schweiz keinen einzigen bestätigten Fall gibt. Auch Nathalies Mutter glaubt an diese Verschwörungstheorie.
Gutachten, Haus- und Handydurchsuchungen
Rund zweieinhalb Jahre nach der Anzeige, im Mai 2022, stellt die Solothurner Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Trotz intensiver Ermittlungen habe man keine Hinweise auf ein strafrechtlich relevantes Verhalten gefunden. Gegen den Entscheid wehrte sich Nathalies Mutter. Doch sowohl das Solothurner Obergericht wie nun auch das Bundesgericht wiesen ihre Beschwerde ab.
In seinem Urteil gewährt das Bundesgericht etwas Einblick in die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. So wurde Nathalie mehrfach befragt, ein Gutachten über ihre Glaubwürdigkeit erstellt, eine Hausdurchsuchung durchgeführt, Datenträger sowie das Handy von Nathalies Vater ausgewertet. Weiter wurden Nathalies Mutter und mehrere andere Personen mehrfach befragt.
«Nicht der geringste objektive Hinweis»
Doch all die Bemühungen führten ins Leere. Das Bundesgericht schreibt: «Für die Anschuldigungen konnte trotz intensivster Ermittlungstätigkeit nicht der geringste objektive Hinweis gefunden werden, der die Anschuldigungen auch nur im Ansatz plausibilisieren könnte.» Es blieben einzig und alleine die Aussagen des damals siebenjährigen Mädchens. Doch auch darauf wird nicht abgestellt. Anders gesagt: Die Behörden glauben Nathalie nicht. Ihre Aussagen seien auffallend unbeständig und widersprüchlich. Aus dem Gutachten über ihre Glaubwürdigkeit wird folgendermassen zitiert: «Die auffallend inkonstanten Angaben sprechen vielmehr für sich genommen schon dagegen, dass es sich bei den Angaben um echte Erinnerungen an Erlebtes und Beobachtetes handelt.»
Stattdessen geht auch das Bundesgericht, gestützt auf dieses Gutachten, davon aus, dass die Aussagen unter suggestiven Bedingungen entstanden sind. Vereinfacht gesagt: Das Kind wurde so lange gefragt, ob es missbraucht worden sei, bis es selbst daran glaubte – und falsche Erinnerungen aufbaute.
Tatsächlich seien die Voraussetzungen zur Entwicklung von Pseudoerinnerungen bei Kindern im vorliegenden Fall geradezu «idealtypisch» gegeben. So liessen sich die Aussagen von Nathalies Onkel, der seine Schwester bei den Vorwürfen unterstützte, «wie eine Anleitung zur Implantation von Pseudoerinnerungen» lesen, zitiert das Bundesgericht aus dem Gutachten. Und weiter: «Beeinflussung in dieser extremen und systematischen Weise dürfte in der forensischen Praxis Seltenheitswert haben.»