Wenn eine Brücke versagt

Im historischen Kriminalroman «Eiffels Schuld» von Stefan Haenni sind auf überraschende Weise zwei Erzählstränge mit­einander verwoben.

Eisenbahnunglück 1891: Für seinen Roman liess sich Stefan Haenni von historischen Fotografien inspirieren. Foto: ZVG

Eisenbahnunglück 1891: Für seinen Roman liess sich Stefan Haenni von historischen Fotografien inspirieren. Foto: ZVG

Verknüpft historische Ereignisse mit einem fiktiven Kriminalfall: 
der Autor Stefan Haenni aus Thun. Foto: zvg

Verknüpft historische Ereignisse mit einem fiktiven Kriminalfall: der Autor Stefan Haenni aus Thun. Foto: zvg

«Jetzt isch si abe», so wurde über Generationen der Ururgrossvater der Schreibenden in familiären Gesprächen zitiert. Er war Kleinbauer und arbeitete zum Zeitpunkt des Eisenbahnunglücks in Münchenstein am 14. Juni 1891 ein paar Kilometer entfernt auf einem Feld in Aesch. Nach dem Knall habe er sich sofort auf den Weg gemacht, um als Helfer an den schrecklichen Unglücksort zu gelangen, wurde stets berichtet.

Um dieses grösste Eisenbahnunglück der Schweiz geht es im neuen Roman von Stefan ­Haenni. Nicht nur bietet «Eiffels Schuld» die Gelegenheit zur Verifikation der eigenen Familiengeschichte, vielmehr findet man darin recherchierte historische Zusammenhänge und einen spannenden Kriminalfall.

Doppeltes Schicksal für die Protagonistin

So pendelt der Roman zwischen zwei Schauplätzen: Einerseits erfährt die Leserschaft von den Dynamiken in Eiffels Compa­gnie in Paris, andererseits begleitet sie Ida Gutzwiller Gysin in Basel auf der Suche nach ihrem Familienglück und bei der Aufklärung ihres Familienunglücks. Die fiktive Geschichte rund um Ida ist eingebettet in die Zeit, in der in Münchenstein die Eisenbahnbrücke – von Gustave Eiffel erbaut – einstürzte. Sie hat 73 Menschen in den Tod gerissen, und über 200 Personen wurden dabei verletzt. Die Protagonistin Ida ist sowohl Überlebende des Unglücks als auch mit einem zuvor passierten Verbrechen belastet, das sie groteskerweise dank des Eisenbahnunglücks für sich aufklären kann.

Historische Tatsachen sind in beiden Erzählsträngen in Paris sowie in Basel und Münchenstein präzise dargestellt. «Die Zeitungsartikel waren vor allem durch die darin wiedergegebenen Augenzeugenberichte von Überlebenden für den Roman ergiebig. Ich habe sie teilweise fast wörtlich meinen fiktiven Akteuren in den Mund gelegt», sagt Haenni. Die Inspiration für die Entwicklung der fiktiven Familiengeschichte um Ida gab ihm ebenfalls ein Zeitungsbericht. «In einem historischen Artikel wurde mitgeteilt, dass lange Zeit nach dem Unglück noch eine stark verweste Wasserleiche gefunden wurde», erklärt Haenni. Stefan Haenni, geboren 1958 in Thun, studierte Kunstgeschichte, Psychologie und Päd­agogik. Er publizierte zahlreiche Kriminalromane und ist als Kunstmaler tätig. Das Betrachten von Fotografien vor Ort lässt vermuten, dass der Autor sich diese genau angeschaut hat: «Die Fotografien waren sehr hilfreich. Der demolierte Wagen über dem Abgrund hat mich dazu inspiriert, ihn als Reisewagen von Ida und ihrer Familie zu wählen.»

Haenni erinnert mit seiner Widmung an Alexandre Gus­tave Eiffel, den Eiffelturm-Erbauer, dass dessen Todestag sich dieses Jahr zum hundertsten Mal jährt. Ausserdem gibt es eine weitere aktuelle Anbindung: Die Tage der beiden Eisenbahnbrücken in Münchenstein von 1892 und 1909, die sich an die Ästhetik der Unglücksbrücke angelehnt ­haben, sind gezählt. Seit Mitte August laufen die Bauarbeiten. Es hätte vor 1891 ebenfalls einer Revision der Brücke Eiffels bedurft, um ein Unglück zu vermeiden. Das war in bestimmten Kreisen bekannt. Die Brücke hatte aufgrund eines Hochwassers einige Sommer davor statische Mängel aufgewiesen. ­Zudem wurden die Lokomotiven schwerer, und es wurden am Unglückstag aufgrund ­eines grossen Andrangs zum Bezirksgesangsfest sogar zwei vorgespannt. Ein paar folgenschwere Umstände addiert führten zur Katastrophe. Haenni schreibt in seinem Roman, dass wegen verschiedener sich widersprechender Gutachten niemand eindeutig zur Verantwortung gezogen werden konnte. Die gesetzlichen Entschädigungszahlungen seien allerdings von der Jura-Simplon-Bahngesellschaft getätigt worden.

Eine Eisenbahnschiene und Gurgeln

Die mündlichen Überlieferungen haben nicht erst mit «Eiffels Schuld» Eingang in die erzählende Literatur gefunden. Beachtenswert ist, was in den Baselbieter Sagen (1976) von Paul Suter und Eduard Strübin steht: «Die alten Leute erzählen, eine Eisenbahnschiene stehe dort aufrecht im Wasser. Ein Mann wollte sie ausreissen. Er tauchte unter, kam aber nicht mehr zum Vorschein. Jedes Jahr beginne das Wasser am Unglückstag an dieser Stelle zu gurgeln.» Der Roman bleibt bis zum Schluss spannend. Die zum Teil dramatischen Darstellungen konfrontieren einen unmittelbar mit einer Katastrophe, wobei das unterschiedliche Verhalten der involvierten Menschen differenziert dargestellt ist. Das Verbrechen in Idas Familie gibt dem Roman nicht nur eine weitere erzählerische Dimension. Vielmehr zeigt es auf, wie die Menschen, die von dem schicksalsschweren Unglück 1891 betroffen waren, mitten in ihrem Leben standen.

Stefan Haenni: «Eiffels Schuld», Gmeiner-Verlag, August 2023, 256 Seiten

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