Wenn der Kompass im Kopf fehlt

Ein sensibles Thema zum Saisonstart: Das Neue Theater Dornach bringt mit dem Stück «Ohne Norden» die Lebensrealitäten und Innenwelten von Menschen mit einer psychischen Erkrankung auf die Bühne.

Blick ins Ungewisse: Schauspielerin Mona Petri im Bühnenbild des Stücks «Ohne Norden». Foto: Julian Salinas

Blick ins Ungewisse: Schauspielerin Mona Petri im Bühnenbild des Stücks «Ohne Norden». Foto: Julian Salinas

Federführend: Regisseurin Isabelle Stoffel steht hinter der Umsetzung 
dieses sensiblen Themas auf der Theaterbühne. Foto: Alex Urosevic

Federführend: Regisseurin Isabelle Stoffel steht hinter der Umsetzung dieses sensiblen Themas auf der Theaterbühne. Foto: Alex Urosevic

Es ist etwas, das es immer gegeben hat und auch immer geben wird – und trotzdem mit einem Stigma behaftet ist, das seinesgleichen sucht: Menschen mit mentalen Krisen und der gesellschaftliche Umgang damit. Betroffene waren und sind häufig nur wenig sichtbar, noch seltener wird ihnen eine Stimme gegeben. Das Neue Theater Dornach hat sich vorgenommen, dies zumindest auf der Theaterbühne zu ändern.

Dafür holte sich das Haus das Theaterkollektiv «Recycled Illusions» ins Boot. Regisseurin Isabelle Stoffel war federführend beim Konzept hinter dem Stück «Ohne Norden». Die Baslerin wirkte in vielen bekannten Produktionen im deutschen und spanischen Sprachraum mit. Solo auf der Bühne steht die Zürcherin Mona Petri, ebenfalls eine etablierte Persönlichkeit in der hiesigen Schauspielwelt und Schweizer-Filmpreis-Gewinnerin.

Die Basis des Stücks ist die auto­biografische Kurzgeschichte «Die gelbe ­Tapete» der US-amerikanischen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Charlotte Perkins Gilman. Die 1892 veröffentlichte Kurzgeschichte taucht in das Leben einer mental angeschlagenen Frau ein und kann als literarisches Protokoll ihrer psychischen Krise verstanden werden. Ihr Ehemann zeigt sich fürsorglich, aber auf eine Art und Weise, die für unsere Gesellschaft typisch ist: bevormundend, wenig verständnisvoll und immer mit dem mitschwingenden Glauben an eine wundersame Heilung durch blosse Disziplin und Willensstärke. Dabei könnte die Innenwelt der Betroffenen, der «Reisenden ohne Norden», deren Kompass ihnen keine klare Richtung weist, ein faszinierender und beschreibbarer Ort sein. Dieser Entdeckungsprozess wird jedoch häufig durch die (un)bewusste Reduzierung der Menschen auf ihre Diagnose unterbunden.

Ein zeitloses Thema

Die Handlung der historischen Kurzgeschichte wird im Stück verwoben und mit den Stimmen von heutigen Betroffenen zusammengefügt. Schauspielerin Petri erklärt: «Es ist eine Montage aus dem literarischen Text und den dokumentierten Gesprächen mit Betroffenen, die Einblick in ihre Welt gewähren.»

Der Grundstein zum Stück legte die Inklusionsstiftung Wisli aus Bülach, die das Theaterkollektiv vor eineinhalb Jahren für ein Projekt zum Thema mentale Gesundheit anfragte. Die Idee wuchs und gewann mit dem Verein für Sozialpsychiatrie Baselland (VSP) eine weitere Partnerinstitution. Ziel war es, die Stimmen und Erlebnisse von Menschen mit einer psychischen Erkrankung auf der Bühne sichtbar zu machen. Dafür führte und dokumentierte Regisseurin Stoffel viele Gespräche mit Betroffenen in den jeweiligen Institutionen: «Vertrauen spielte dabei eine wichtige Rolle, schliesslich brauchten die Mitwirkenden die Gewissheit, dass ihre persönliche Geschichte auch in ihrem Sinn auf die Bühne gebracht wird», erklärt Stoffel. Die ausgewählten Gesprächsausschnitte wurden dann von den Betroffenen später nochmals nachgesprochen und sind im Originalton ab Band im Stück zu hören.

Gesprächsrunde mit Betroffenen und Entscheidungstragenden

Das Theaterstück ist dabei nur der erste Teil der Vorstellung. Im Anschluss gibt es jeweils eine moderierte Gesprächsrunde zum Thema psychische Gesundheit mit einzelnen «Expertinnen und Experten aus Erfahrung», die dem Stück ihre Geschichte und Stimme geliehen haben.

Mit am Tisch sitzen entscheidungstragende Persönlichkeiten aus Institutionen, Wissenschaft und Politik. «Der Dialog und die Begegnung nicht nur mit der Thematik, sondern auch mit den Betroffenen selbst ist ein essenzieller Gedanke des Ganzen», meint Stoffel. Und womöglich haben gerade solche Begegnungen das Potenzial, zu einem verständnisvolleren Umgang mit der vermeintlich kompasslosen Welt der Betroffenen zu führen  – und es als Gesellschaft vielleicht besser zu machen als der «fürsorgliche» Ehemann aus der Kurzgeschichte.

«Ohne Norden», Neues Theater Dornach: Do, 19. 9. (Premiere) / Fr, 20. 9. / So, 22. 9. / Fr, 25. 10. / So, 27. 10. neuestheater.ch

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