«Warum lassen wir jede und jeden nicht so sein, wie sie oder er ist?»
Wie umgehen mit Menschen, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen? Diese Frage beantwortete die Sonnhalde in Gempen.
Die Gesellschaft stellt Normen der Produktivität und Funktionalität. Ist das richtig? Wer definiert Normen in Leistung und Umgang? Ab wann gelten Bedürfnisse als «besonders» und wie möchten und können wir mit diesen umgehen? Und warum darf der Humor dabei nicht unterschätzt werden? Welche einzigartigen Talente, Emotionen und Ideen können genutzt werden, um die Herausforderungen des Alltags zu meistern?
Diese Fragen warf die Sonnhalde Gempen am Mittwoch vergangener Woche auf und lud unter dem Motto «Gleiche Welt – andere Realität» zur Podiumsdiskussion mit bekannten Gästen ein. Unter der Leitung des freien Journalisten Urs Heinz Aerni diskutierten der ehemalige SRF-Moderator Kurt Aeschbacher, Schauspieler Hanspeter Müller-Drossaart, Stefan Büchi, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, und Joswitte Stingelin, bei der Sonnhalde Fachverantwortliche für unterstützte Kommunikation.
Die Sonnhalde ist eine soziale Einrichtung in privater Trägerschaft mit öffentlichem Auftrag für Menschen mit Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Verhaltensauffälligkeiten, insbesondere aus dem Spektrum Autismus.
Der Saal war mit rund 75 Personen bis auf den letzten Platz besetzt. Im Rahmen der Begrüssung berichtete Eike Tillner als Bewohner von seinem Leben in der Sonnhalde. Seine Erinnerungen an seine Zeit als Schüler und Mitarbeiter in der Wäscherei und Gärtnerei machten klar, wie wertvoll Institutionen wie die Sonnhalde sind.
In der Podiumsdiskussion entstand eine engagierte Debatte darüber, ob es Institutionen wie die Sonnhalde überhaupt brauche und ob sie sogar negative Folgen für deren Bewohnerinnen und Bewohner und die Gesellschaft als Ganzes haben können. Joswitte Stingelin berichtete über die hohen Erwartungen in Sachen Inklusion und die Bedeutung des gemeinsamen Lachens mit Bewohnerinnen und Bewohnern. «Sobald wir lachen können, ist eine Leichtigkeit da. Wenn wir es schaffen, aus etwas Schwerem zum Lachen zu kommen, macht man Fortschritte.»
Betroffenheit zulassen, Begegnungen fördern
Die Runde war sich einig, dass Mitleid mit Menschen, die «anders» als die gesellschaftliche Norm sind, keinen Platz haben sollte. «Bei Mitleid stellt man sich über den anderen», mahnte Kurt Aeschbacher. Schauspieler Hanspeter Müller-Drossaart kenne aus eigener Erfahrung mit seiner geistig behinderten Schwester, wie Menschen der Umgang mit dem Anderssein schwerfällt. Müller-Drossaart begrüsst Institutionen wie die Sonnhalde, fragt sich aber, warum diese «am Arsch der Welt» liegt. Joswitte Stingelin hatte dafür logische Erklärungen: Die Abgelegenheit sei für Menschen mit Autismusspektrumsstörungen essenziell, um sie vor Reizen zu schützen. «Aktivierung findet statt, indem wir zu den Menschen gehen, indem wir zum Beispiel Museen besuchen», erklärte Stingelin. «Uns ist wichtig, dass unsere Klienten gesehen werden.»
Hanspeter Müller-Drossaart sah seinen Einwurf als Vorwurf an die Gesellschaft und nicht als Kritik an die Sonnhalde. Er warf die Frage auf, weshalb alle Menschen gleich gemacht werden sollen. «Warum lassen wir jede und jeden nicht so sein, wie sie oder er ist? Jeder ist so richtig, wie er ist!»
Kurt Aeschbacher, der kürzlich als Unicef-Botschafter in Vietnam war, unterstrich die Bedeutung von Begegnungen mit Menschen, die «anders ticken». Aeschbacher appellierte dazu, Betroffenheit zuzulassen und Begegnungen zu fördern.
Mehr Resilienz notwendig?
Beim Thema psychische Gesundheit erinnerte Facharzt Stefan Büchi an die Zunahme von psychischen und physischen Störungen. Der Druck auf junge Menschen habe zugenommen, bekräftigte auch Müller-Drossaart. «Es ist nicht das Problem, dass die Menschen heute weniger aushalten. Die Welt hat sich verändert.» Kurt Aeschbacher appellierte, dem Pessimismus nicht zu viel Raum zu geben. «Es hat sich vieles zum Guten verändert. Man muss resilienter durch den Alltag gehen.» Stefan Büchi entgegnete vehement: «Dass es objektiv gesehen mehr psychische Erkrankungen gibt, ist ein Fakt.»