War Shakespeare ein Vergewaltiger? Ein kritischer Blick auf die Hochkultur
Das preisgekrönte Stück «Judith Shakespeare – Rape and Revenge» widmet sich dem Umgang mit Frauen im Kulturbetrieb. Ein so giftig-satirisches wie komplexes Stück, das zu den Highlights dieser Saison gehört.
Ähnlichkeiten mit realen Personen sind alles andere als zufällig: Als die Autorin Judith (Johanna Dähler) beim Theaterdirektor Juri Stein (Grazia Pergoletti) vorstellig wird, weiss der sofort, worüber sie zu schreiben hat: «Vergewaltigung! Das ist Ihr Thema!», posaunt er breitbeinig im Bürostuhl sitzend heraus. Eine Szene, wie sie sich tatsächlich an einem Theater abgespielt haben könnte. Der Verdacht liegt nahe, dass die Autorin Paula Thielecke mit ihrem Stück eigene Erfahrungen im Theaterbetrieb verarbeitet. Der Direktor fällt Judith dauernd ins Wort, nennt sie «Kind» und rückt ihr in der Hotelbar auf die Pelle.
Dass der Macho Judith überhaupt eine Chance gibt, liegt an ihrem Nachnamen: Sie ist Shakespeares Schwester – weshalb der Theaterdirektor gleich vorschlägt, ihren Vornamen nur ganz klein auf die Werbeplakate zu schreiben. Damit bezieht sich das Stück auch auf die Schriftstellerin Virginia Woolf. Die hatte in ihrem feministischen Essay «Ein Zimmer für sich allein», aus dem zu Beginn vorgelesen wird, gefragt, wie es der Schwester Shakespeares ergangen wäre, wenn sie ans Theater gewollt hätte. Woolfs Antwort: Sie wäre gedemütigt, vergewaltigt und in den Suizid getrieben worden. Wie Woolf analysiert auch Paula Thielecke den Umgang mit Frauen in der Kulturszene. Dazu kommt die Frage, wie Frauen in den Werken männlicher Künstler dargestellt werden.
Der Themenvorschlag des Direktors knüpft nämlich an eine lange Tradition an. In vielen Werken kommen Frauen nur als hilflose Opfer vor: von dem vom pädophilen «Faust» verführten Gretchen bis hin zu den Vergewaltigungsfantasien in den lyrischen Ergüssen von Rammstein-Frontmann Till Lindemann.
Mit Lachen gegen die Täter
Der Direktor verkauft Judith seinen Vorschlag zwar als feministisch. Aber eigentlich geht es ihm nur um zynische Identitätspolitik: Bei dem Thema winke «das eine oder andere Fördertöpfchen Gold», ist er überzeugt. Derweil sieht er über einen anderen Aspekt grosszügig hinweg: nämlich, dass es gerade in der Kulturszene immer wieder zu sexuellen Übergriffen kommt, wie der Fall Harvey Weinstein zeigt. In «Judith Shakespeare» vertritt diesen Aspekt Judiths von Yevgenia Korolov grossartig grossspurig gespielter Bruder William. Der von seiner Genialität berauschte Autor ist überzeugt, dass «Nein» manchmal «Ja» heisst – und missbraucht eine Theaterassistentin im Hotelzimmer. Als diese mit der Polizei droht, gerät er in einer eingeblendeten SMS-Konversation in Panik, zur Erheiterung des Publikums. Es ist die Stärke des Stücks, wie es die Täter ins Lächerliche zieht. Florentine Krafft verhandelt in ihrem Regiedebüt das komplexe Thema niemals plump-anklagend, sondern setzt auf ätzende Ironie. «Riot Grrrl-Punk» für die Bühne quasi. Dabei fährt Krafft zahlreiche technische Mittel auf, von Livekameras und rosa Kunstnebelwolken bis hin zu eingeblendeten Theoriezitaten. Meist ist das sinnvoll, auf den einen oder anderen Kniff hätte man aber verzichten können. Auch der esoterisch-utopische Schwenk am Ende, als sich Judith und ihre Mitstreiterinnen befreien, indem sie sich in Bäume verwandeln, schreit etwas gar nach Dornach.
Trotzdem: «Judith Shakespeare» gehört zu den besten Stücken der aktuellen Basler Theatersaison. Nur schon, weil es daran erinnert, dass ein satirischer Umgang mit Ungerechtigkeiten oft die wirkungsvollste Kritik ist.
«Judith Shakespeare – Rape and Revenge» ist noch bis Ende Januar 2024 am Neuen Theater Dornach zu sehen. Nächste Vorführungen: 8./9. Dezember, 19.30 Uhr.