Tiefschürfend und leicht zugleich
Das einaktige Theaterstück «Der Besucher» stellt Fragen der Spiritualität und des Zweifelns. Und unterhält grossartig.
Schwierig ist es, aus der grossen Dichte geistreicher Sätze und Dialoge das Beste herauszusuchen, um ein Exempel dafür zu geben, warum es lohnend ist, das Bühnenstück «Der Besucher», welches am Samstag im Grundsteinsaal des Goetheanums seine Premiere feierte, anzusehen. «Im Mittelalter hätten sie mich verbrannt, jetzt begnügen sie sich mit meinen Büchern. Das ist doch allemal ein Fortschritt», spottet Protagonist Sigmund Freud, gespielt von Jens Bodo Meier, gleich in den ersten Minuten des Stücks, dessen Handlung am Abend des 22. April 1938 in der Wiener Wohnung Freuds angesetzt ist. Immer wieder dringen die Gesänge der aufmarschierenden Nazikolonnen in das Arbeitszimmer, die Freud verzweifelt mit den Worten «Wenn sie wenigstens schlecht singen würden» kommentiert. Im Monat zuvor ist die Hitlerarmee in Österreich einmarschiert, die jüdische Bevölkerung Wiens ist in Alarmbereitschaft, Berichte über Verhaftungen und Suizide machen die Runde, Freud plant die Ausreise. Weil seine Tochter Anna – gespielt von Sandra Giraud – dem Gestapo-Mann auf Hausbesuch die Meinung geigt und ihn auffordert, ihren Vater in Ruhe zu lassen, wird sie kurzerhand zum Verhör mitgenommen. Und in dieser misslichen Situation bekommt der körperlich bereits angeschlagene Psychoanalytiker Besuch von einem Unbekannten, der andeutet, Gott zu sein. Hier setzt der Dialog zwischen dem Besucher, gespielt von Christian Richter, und Freud ein, der sich wie ein roter Faden durch das ganze Stück zieht: Als Religionskritiker und Atheist nimmt Freud die Worte des Besuchers nicht ernst, doch dessen Fähigkeit, Einzelheiten aus seinem Leben zu kennen, und von einem Buchprojekt zu wissen, das erst in Freuds Gehirn existiert, machen ihn nachdenklich. Im Verlauf des Dialogs wird Freud durch Stationen und unerwartete Erlebnisse geführt. Dank dem Besucher gelingt es Freud sogar, den Gestapo-Hauptmann, gespielt von Peter Meyer, zu verunsichern und sich gefügig zu machen.
Ein Gedankenspiel mit Freud
«Der Besucher» stammt aus der Feder des französischen Dramatikers und Romanciers Éric-Emmanuel Schmitt. 1960 im Elsass in ein atheistisches Elternhaus hineingeboren, fand er durch ein einschneidendes Erlebnis zum Christentum. In seinem Stück schickt er Freud – der in der Realität Religion noch in seinem letzten Buch auf Komplexe im Menschen reduzierte – auf eine Reise, die ihm selbst bekannt sein dürfte. Der wechselt im Stück zwischen Zweifeln und so etwas wie der Hoffnung, dass es Gott doch geben möge. Der Besucher zeigt sich geduldig und Humor hat er auch, wenn er sagt: «Es gibt nichts Langweiligeres als eine Konversation mit Leuten, die mich anhimmeln.» So entspinnt sich ein Dialog, der immer wieder dramatisch die Richtung wechselt und punktuell musikalisch begleitet wird: Am Klavier ist dabei Nadia Belneeva zu hören, für den Gesang zeichnet Sopranistin Ingala Fortagne verantwortlich.
Geld als Gott
Glänzende schauspielerische Leistungen und die stimmige Regiearbeit von Valerian Gorgoshidze machen den «Besucher» zu einem zweistündigen, kurzweiligen, inspirierenden Theaterabend. Dabei muss der geneigte Zuschauer nicht der Anthroposophie oder der Theologie zugewandt sein, um mit dem Stück etwas anfangen zu können. Schliesslich klagt der Besucher Verwerfungen der Menschheit wie Kriege oder den quasi religiösen Status des Geldes an – Dinge, die real und konkret sind. Sätze wie «Das Geld wird Euer Gott sein» hört man schliesslich nicht häufig. Dabei bleiben die Dialoge immer zugänglich. Regisseur Gorgoshidze sagt es im Interview der Broschüre zum Stück treffend: «Schmitt schreibt tief. Und zugleich leicht.»
«Der Besucher»: Sa, 25. 11., um 19 Uhr; So, 26. 11., um 16.30 Uhr; weitere Aufführungsdaten im kommenden Jahr. www.goetheanum-buehne.ch