«Le Dolci Vite»: Was wäre, wenn?
Wäre die Schwarzenbach-Initiative 1970 angenommen worden, hätte dies für rund 350000 Menschen die Ausweisung bedeutet. Was das für ihr eigenes Leben bedeutet hätte, zeichnet die Schauspielerin Grazia Pergoletti im Neuen Theater Dornach nach.
Kurz vor Beginn des Stücks laufen etwas scheppernde Italo-Klassiker aus den Lautsprechern. Grazia Pergoletti und Marcel Schwald stehen am Bühnenrand bereit und tanzen munter vor sich hin, während sich der Saal langsam gut füllt. Zentral auf der Bühne steht eine grosse, längliche Leinwand, die umgeben ist von einem Klappbett, einem Esstisch, einer Wäscheleine und einer Stehlampe – alles im «typisch» italienischen Stil. Was nun folgen wird, ist die autofiktionale Auseinandersetzung damit, wie das Leben von Pergoletti verlaufen wäre, hätte sie als Sechsjährige mit ihrem Vater Basel verlassen und zurück nach Assisi gehen müssen. Wobei «zurück» nur für Vater Lodovico zugetroffen hätte, da Tochter Graziella ihr bisheriges Leben in der Schweiz verbracht hatte. Pergolettis Reise nach Assisi auf der Suche nach Antworten, wie ihr Leben im Falle einer Annahme der Schwarzenbach-Initiative wohl ausgesehen hätte, wurde von ihr selbst zusammen mit Vera von Gunten und Marcel Schwald inszeniert.
Überraschend knapp
«Buongiorno a tutti, sono Graziella», begrüsst sie das Publikum und erklärt kurz die Ausgangslage: Geboren wurde sie in Basel, ihr Vater Lodovico kam in den 50er-Jahren als Arbeiter von Italien in die Schweiz. Aufgewachsen ist sie in einer kleinen Wohnung samt Geschwistern, Eltern und Grossmutter. Graziellas Vater war gelernter Teigwarenhersteller, in Basel arbeitete er jedoch in den unterschiedlichsten Jobs, schlussendlich als Färber bei der Ciba-Geigy. Sie selbst habe eine schöne Kindheit verbracht und als Seconda ausser einem gelegentlichen «Pergoletti-Spaghetti» nicht viele negative Erfahrungen machen müssen. Vielmehr sei sie von den anderen Kindern um die häufigen Badeferien, das gute Essen und ihre «Italianità» eher beneidet worden. Während der Vater bei seiner Ankunft im Arbeiter-Sonderzug damals noch bejubelt worden war, hatte er jedoch anschliessend mit vielen Vorurteilen zu kämpfen. So putzte er in jeder freien Minute die Wohnung, weil es hiess, dass Italiener «dreckig» seien. Diese Fremdenfeindlichkeit gegen die meist südländischen Arbeiterinnen und Arbeiter gipfelte Ende der 1960er-Jahre mit der Überfremdungsinitiative der «Nationalen Aktion», angeführt vom Zürcher Nationalrat James Schwarzenbach. Diese forderte, den Ausländeranteil in der Bevölkerung auf maximal 10 Prozent zu begrenzen – sie wurde von der damals noch ausschliesslich männlichen Stimmbevölkerung überraschend knapp mit nur 54 Prozent abgelehnt.
Nadia, Lina und Francesca
Graziella begibt sich also auf die Reise nach Assisi, um etwa gleichaltrige Frauen zu treffen und mehr über deren Lebensweg zu erfahren. Denn so hätte auch ihrer verlaufen können. So taucht man in die Welt der Kellnerin Nadia ein, die in einer Bar auf der Piazza arbeitet. Man blickt durch die Augen von Alessandra, die in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs und Glück mit der Arbeit, aber Pech in der Liebe gehabt hat. Man begibt sich in die Schuhe von Lina, die Tochter einer Putzfrau und eines Maurers, die direkt nach der Schule geheiratet hat und seither als Sekretärin bei der Stadtverwaltung arbeitet. Und man erfährt von Francesca, die eine kleine Modeboutique führt und viel auf der Welt herumgekommen ist, um am Schluss doch wieder in Assisi zu landen.
Das Theaterstück gibt Einblicke in die jeweiligen Leben und was diese trotz teils unterschiedlichster Ausgangslagen schlussendlich lebenswert macht: Liebe, Reisen, Kunst, Freundschaften, Essen und Ausgehen, um nur ein paar Dinge zu nennen. Zum Schluss werden viele Fragen in den Raum geworfen: Wohin geht’s zum «süssen Leben»? Wer stellt die Weichen, und warum? Und dann endet alles, wie es auch begann: mit Musik und dem gemeinsamen Stöbern in der alten italienischen Schallplattensammlung.