«Es braucht einen gewissen Respekt gegenüber den Figuren»

Nachdem der Roman «Schmelzwasser» erschienen ist, erzählt Patrick Tschan im Gespräch mit dem Wochenblatt, wie die Geschichte um die ­gewiefte Buchhändlerin entstanden ist.

Schriftsteller mit grünem Daumen: Patrick Tschan in seinem Garten in Dornach. Foto: Jeannette Weingartner
Schriftsteller mit grünem Daumen: Patrick Tschan in seinem Garten in Dornach. Foto: Jeannette Weingartner

«Du musst den Erzähler rausschmeissen!», sagte der Lektor vor zehn Jahren bei einem Mittagessen in Wien zu Patrick Tschan, nachdem der Autor die ersten 150 Seiten eines neuen Romans an den Verlag geschickt hatte. Bis dahin standen zwei wichtig Figuren im Zentrum: Ein Erzähler und eine Buchhändlerin. «Kill your Darlings – ich musste mich entscheiden: Entweder gibt es eine Geschichte über den Erzähler – oder über Emilie Reber», erzählt Tschan.

Nachdem er die Geschichte zugunsten zweier anderer Romane, «Eine Reise später» und «Der kubanische Käser», hatte ruhen lassen, erweckte er die Buchhändlerin Emilie Reber wieder zum Leben. So wurde vor kurzem sein fünfter Roman «Schmelzwasser» veröffentlicht.

Entnazifizierung einer Kleinstadt

«Schmelzwasser» spielt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einer deutschen Kleinstadt am Bodensee, wo die Bewohner zu einem normalen Leben zurückzukehren versuchen. Die Buchhändlerin Emilie Reber, ursprünglich Mitglied der Résistance, springt frech von einem Linienschiff an Land und übernimmt die ehemalige deutsche Freiheitsbibliothek, die sie als Leihbibliothek einrichten soll. Gemeinsam mit zwei Freundinnen und einem Kunden der Buchhandlung treibt sie mithilfe von Literatur die Entnazifizierung der Kleinstadt voran und stösst dabei auf eisernes Schweigen und Widerstand der Kleinstädter.

Die fiktive Stadt basiert auf dem Ort Überlingen, dort, wo Tschan zum ersten Mal von einigen Bekannten auf die Geschichte der Buchhändlerin Eleonore Weber aufmerksam gemacht worden ist. Obwohl die Figur Emilie Reber auf ihr basiert, ist der Plot in «Schmelzwasser» mehrheitlich fiktiv – so hatte Eleonore Weber zum Beispiel kein Interesse an der Entnazifizierung der Stadt. Einige Elemente hat Tschan aber übernommen, zum Beispiel wollte Weber tatsächlich keine Taschenbücher in ihrer Buchhandlung haben, musste dann aber trotzdem gegen ihren Willen eine solche Abteilung aufmachen. Sie weigerte sich jedoch konsequent, diese Abteilung zu betreten.

Figuren brauchen ihre Freiheit

Bei der Entstehung seiner Bücher stehe immer eine Figur im Vordergrund, verrät Tschan. «Wenn du eine gute Figur als Vorlage hast, dann kannst du ihr einen Tritt in den Hintern geben und sie läuft von selbst. Die Person lebt in einer bestimmten Zeit und diese Zeit stellt sie vor bestimmte Probleme. Wie die Figur damit umgeht, bildet ihren Charakter. Man muss der Figur ihre Freiheit lassen. Es gibt nichts Schlimmeres, als den Figuren Themen vorzugeben, die diese wie ein Programm abhandeln müssen. Es braucht einen gewissen Respekt gegenüber den Figuren, man muss sie lieben, man muss ihnen ein Eigenleben belassen, dann geben sie einem auch etwas zurück.»

Halt in Überlingen

Seit Anfang September tourt Tschan mit Lesungen zu «Schmelzwasser» in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Gestern war er dabei in Überlingen unterwegs. Sein Buch ist bei Buchkritikern bisher auf positive Resonanz gestossen. Die österreichische Tageszeitung «Die Presse», die Überlingen als Vorbild der Kleinstadt bereits im Titel entlarvt, lobt: «Der Schweizer Patrick Tschan verneigt sich in ‹Schmelzwasser› vor Frauen, die sich nach dem Krieg was trauen: klug, berührend, witzig – und eine historische Fundgrube.» Und Buchbloggerin Manuela Hofstätter schreibt auf ihrer Website: «Welch ein Roman, wenn sich hier nicht sofort jemand die Filmrechte sichert, verstehe ich die Welt nicht mehr.»

Aktuell arbeitet der Schriftsteller noch an zwei anderen Projekten – Details dazu will er noch nicht verraten. Beide haben aber etwas mit seinem Wohnort Dornach und der Region zu tun: «Da wird auf Dornach noch etwas zukommen!»

Patrick Tschan, «Schmelzwasser». Braumüller. 336 Seiten. Ab 31 Franken.

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