Ein Vermächtnis, das sitzt

Der Freischwinger S33 gilt als Design-Ikone. Was kaum jemand weiss: Die Lizenz gehört dem Goetheanum.

Noch immer sehr beliebt: der Freischwinger S33 von Thonet im Goetheanum. Bild: Xue Li
Noch immer sehr beliebt: der Freischwinger S33 von Thonet im Goetheanum. Bild: Xue Li

Bis heute ist nicht bekannt, warum Mart Stam sich der Anthroposophie zugewandt fühlte, welche Verbindung es gab zwischen dem Architekten und dem Goetheanum. Doch als der Niederländer 1986 in der Schweiz, wo er sich schon lange zuvor niedergelassen hatte, im Alter von 86 Jahren starb, machte er der Anthroposophischen Gesellschaft ein grosses Geschenk: Sie erhielt die Rechte an einem der berühmtesten Stühle überhaupt, dem Freischwinger S33. Das beschert dem Goetheanum Jahr für Jahr erkleckliche Einnahmen.

Nun gedenken die Beschenkten Mart Stams. Aus Anlass der Goetheanum-Weltkonferenz 2023 in Dornach, die Anfang Oktober zu Ende ging, wurde eine Sonderedition des Freischwingers initiiert: 100 Stühle mit einer ganz speziellen Sitzfläche und Rückenlehne. Sie sind, anders als bei diesem Modell meist üblich, nicht aus Leder, sondern aus Demeter-Baumwolle gefertigt. Der Stoff ist entweder gelb oder blau eingefärbt.

Stuhl sollte schwangere Frau stützen

Das Färben geschah unter anderem im Rahmen einer Arbeitswoche während der Weltkonferenz. Der blaue Farbstoff stammt von Färberwaid-Pflanzen, die in den Goetheanum-Gärten wachsen. Die fertigen Stühle wurden dann an Interessierte verkauft, für 1500 bis 2000 Euro, womit sie nicht wesentlich teurer sind als «normale» Freischwinger. «Logistisch achteten wir darauf, dass möglichst nicht mit dem Flugzeug transportiert wird und alle Produktionsprozesse nachhaltig gestaltet sind», schreibt Johannes Kronenberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sektion für Landwirtschaft, auf Anfrage.

Normalerweise stellt Thonet den S33-Freischwinger in Eigenregie her. Das deutsche Fa­milienunternehmen aus Nordhessen erwarb Anfang der 1930er-Jahre die Rechte für die Stahlrohr-Entwürfe von Mart Stam. Thonet schweigt sich über die Absatzzahlen aus, ebenso über die Lizenzgelder, die in die Schweiz überwiesen werden. Einem Beitrag der Zeitschrift «Das Goetheanum» war kürzlich zu entnehmen, dass alleine 2022 rund 120000 Franken an Patentgeldern an das Goetheanum geflossen seien. Das beziehe sich jedoch, teilt Thonet mit, nicht auf den Freischwinger alleine, sondern auf alle Thonet-Modelle, die mit dem künstlerischen Urheberrecht Mart Stam gekennzeichnet seien. Es handelt sich um die Freischwinger-Abwandlungen S43 und S40.

Mart Stam, ursprünglich Tischler, entwarf den Stuhl 1926, offenbar, um seine damals schwangere Frau Leni zu unterstützen. Die Sitzunterlage sollte «frei schwingen», ist über Stams Intention überliefert. Dafür experimentierte er zuerst mit Gasleitungsrohren, heute kommen Stahlrohre zum Einsatz.

Der hinterbeinlose Stuhl sorgte sogleich für Aufsehen. Der Künstler Kurt Schwitter soll im Jahr darauf, als er das Modell zum ersten Mal erblickte, gesagt haben: «Warum vier Beine, wenn zwei ausreichen?» Heute steht der Freischwinger, Listenpreis gemäss Hersteller ab 1344.70 Euro, noch immer in Zahnarztwartezimmern, Restaurants, Museumsfoyers, aber auch in Privathaushalten. Ebenso nicht fehlen darf er in Innen­architektur- und Designzeitschriften.

Rechtsstreit ums Patent

Der Geldsegen für das Goetheanum wird nicht so rasch versiegen. Thonet lässt mitteilen, der Freischwinger S33 sei «nach wie vor sehr beliebt» und gehöre «bis heute zu den Bestsellern bei Thonet». Um das Patent gab es einen Rechtsstreit zwischen Mart Stam und Marcel Breuer, der als Miterfinder von modernen Stahlrohrmöbeln gilt und unter ­anderem die Möbelwerkstatt am Bauhaus Dessau leitete. Breuers Stahlrohrentwürfe werden seit bald hundert Jahren ebenfalls von Thonet produziert, darunter der Freischwinger S32, mit dem der S33 gerne verwechselt wird. Beim S32 bestehen jedoch Sitz und Rückenlehne aus Massivholz mit Rohrgeflecht. Der Bundesgerichtshof Karlsruhe sprach 1961 Mart Stam das künstlerische Urheberrecht für den S33 zu. Es gilt noch bis 70 Jahre nach dem Tod des Schöpfers. Das bedeutet, dass die Freischwinger-Lizenzgelder bis ins Jahr 2056 nach ­Dornach fliessen – vorausgesetzt, Thonet verliert nicht die Lust daran, ihn zu ­produzieren, wovon jedoch nicht auszugehen ist.

Stam besuchte wohl Vorträge

Immer wieder wurde versucht, das Geheimnis um Mart Stam und die Anthroposophie zu lüften. Er war nicht Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft, hat aber in jüngeren Jahren gemäss seiner Tochter Vorträge von Rudolf Steiner besucht. Ebenso ist nicht klar, ob Stam den Stuhl absichtlich mit «runden Ecken» gestaltet hat. In der anthroposophischen Gestaltungslehre werden rechte Winkel gemieden. Überliefert ist lediglich, dass Stam bei den ersten Entwürfen die Winkel der Gasleitungsrohre mit sogenannten Flanschen zusammenfügte, also mit miteinander verschraubbaren Metallscheiben. Dass der Freischwinger in der Endausführung keine rechten Winkel mehr kannte, dürfte somit eher ein Zufall sein.

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