Der Retter der ersten Stunde
Am 10. April 1973 ereignet sich in Hochwald das bis heute grösste Flugzeugunglück auf Schweizer Boden: Beim Absturz eines englischen Fliegers sterben 108 Menschen, 37 überleben wie durch ein Wunder. Ein Augenschein vor Ort.
Hansruedi Vögtli steht vor seinem Haus und zeigt mit der Krücke gegen den Himmel. «Hier ist die Maschine drüber geflogen», sagt er. «Viel gesehen habe ich wegen des dichten Nebels jedoch nicht.» Fünfzig Jahre ist das nun her – eine lange Zeit, in der die Erinnerungen ebenfalls hinter einer dicken Nebelschicht des Vergessens verblassen oder gar ganz verschwinden können. Vögtli, mittlerweile 88 Jahre alt, erinnert sich aber noch genau daran, was sich am 10. April 1973 vor seiner Haustür im Weiler Herrenmatt oberhalb von Hochwald ereignete. «So etwas geht einem nicht mehr aus dem Kopf.»
An jenem Morgen will der Bauer mit seiner Familie an die Muba fahren, die damals noch ein gesellschaftliches Ereignis war, inzwischen aber das Zeitliche gesegnet hat. Doch es schneit so heftig, dass er zuerst einmal sein Auto freischaufeln muss. Da hört er plötzlich einen gewaltigen Lärm über sich – aufheulende Motoren eines Flugzeugs. «Ich dachte sofort: Der kommt zu tief, gleich knallt’s.» Statt einer Explosion sind wenige Augenblicke später jedoch nur merkwürdige, schwer zu beschreibende Geräusche zu hören. Vögtli versucht es trotzdem: «Es klang wie ein Pfeifen. Und dann plötzlich nur noch Stille.» Er ist sich sicher, dass das Flugzeug abgestürzt ist. Er rennt ins Haus. Als Feuerwehrkommandant von Hochwald weiss er, was er als Erstes zu tun hat, und ruft die Brandwache in Basel an, die heutige Feuerwehr. Ob man von einem Flugzeug wisse, das vermisst werde. Falls ja, dann sei es hier oben bei der Herrenmatt abgestürzt. Die Basler Feuerwehr fragt beim Flughafen Basel-Mulhouse an. Dort heisst es, man wisse nichts von einem vermissten Flugzeug. Dass bei der Flugsicherung just in jenen Momenten grosse Hektik ausbricht, weil ein Flieger aus England verschwunden ist, bekommt der Angestellte am Flughafen nicht mit. Die Brandwache ruft Vögtli zurück, es sei alles in Ordnung.
Das Flugzeug «Oscar Papa» setzt erfolglos zur Landung an
Allerdings ist gar nichts mehr in Ordnung. Zuvor schien alles seinen ganz gewöhnlichen Gang zu nehmen, am Flughafen. Es herrscht zwar ein Schneetreiben mit schlechter Sicht, trotzdem landen elf Flieger ohne grössere Probleme in Basel-Mulhouse. Einzig der Pilot eines Learjets aus Stuttgart entschliesst sich zur Umkehr. Dann kommt eine Vickers Vanguard aus England. Das elf Jahre alte Flugzeug mit vier Propellern, das den Übernamen «Oscar Papa» verpasst erhalten hat, setzt zur Landung an. An Bord: Sechs Besatzungsmitglieder und 139 Passagiere, die meisten von ihnen Frauen aus mehreren Ortschaften der Grafschaft Somerset. Sie sind in Bristol bei Sonnenschein gestartet und wollen für einen Tagesausflug ebenfalls die Muba besuchen. Es passt zur Tragik des späteren Geschehens, dass der Flug ursprünglich an einem anderen Tag hätte stattfinden sollen, aus organisatorischen Gründen jedoch auf den 10. April verschoben wurde. Auch wechseln einige Tickets noch ihren Besitzer. Eine Mrs. Marion Warren etwa sagt wieder ab, weil ein ungutes Gefühl sie überkommt. Sie verkauft das Ticket an eine Freundin, die die Reise mit der neunjährigen Tochter antritt. Es wird ihre letzte sein.
Der Flug verläuft lange normal. Bis vor Basel. Wegen des schlechten Wetters ordnet der Flughafentower einen Instrumentenflug an. Die Piloten brechen den ersten Landeanflug ab. Ein zweiter Versuch misslingt ebenso. Sie melden, dass sie einen neuerlichen Anflug versuchen wollen und dafür eine Schlaufe ziehen. Die beiden gelten als flugerfahren, Basel haben sie schon Dutzende Male angeflogen. Der fliegerische Werdegang von Captain Anthony Dorman ist allerdings nicht gerade mit Ruhm bekleckert.
«Wenn es weiterfliegt, wird es gegen die Berge krachen»
Der 34-Jährige fiel durch mehrere Flugprüfungen durch, die Instrumentenfluglizenz wurde ihm in Nigeria erteilt. Tatsächlich führen Navigationsfehler, aber ebenso unglückliche Umstände dazu, dass die «Oscar Papa» vom Kurs abkommt und im dichten Nebel verschwindet. Um unvermittelt wieder aufzutauchen, und zwar über dem Observatorium auf dem Bruderholz. Dort vertreibt sich der pensionierte Swissair-Pilot Roger Beck gerade die Zeit, als er die Maschine gefährlich nahe vorbeifliegen sieht; zuerst befürchtet er gar, dass sie einen Windmesser des Observatoriums streifen könnte. Beck ruft beim Flughafen an: «Hallo Tower! Soeben ist hier ein vierpropelleriger Flieger keine 50 Meter über unserem Haus durchgeflogen. Wenn er auf diesem Kurs weiterfliegt, wird er gegen die Berge krachen.» Der Mann von der Flugsicherung fragt nach: «Sie sprechen wirklich von 50 Metern?» «Hören Sie», sagt der Anrufer, «ich war bis vor kurzem Swissair-Pilot. (…) Das Flugzeug muss unbedingt steigen.»
Als sich auch noch die Flugsicherung Zürich meldet, man habe ein Radarecho empfangen, und informiert, dass sich ein Flugzeug in Richtung Hochwald bewege, und nachfragt, ob das seine Richtigkeit habe, läuten im Basler Tower die Alarmglocken. Jetzt wird im dortigen Kontrollbüro nach einer genauen Überprüfung der Lage klar, dass sich die Maschine tatsächlich auf falschem Kurs befindet. Der Fluglotse warnt die Piloten: «Ich denke, Sie sind südlich des Flugplatzes unterwegs!» Südlich, ganze 16 Kilometer vom Flughafen entfernt. Statt nördlich, wie es sein müsste. Einiges deutet darauf hin, dass die Crew im Cockpit ihren Irrflug im letzten Moment doch noch bemerkt. Abrupt reissen sie nämlich die «Oscar Papa» hoch. Zu spät: Der Passagier Barry Jones schildert später gegenüber den Medien, wie er plötzlich «Berge und Tannen gegen die Maschine stürzen» sieht. Woraufhin das Flugzeug stark ins Schleudern gerät, Nase voran in den Wald taucht und sich schliesslich auf den Rücken dreht. Der vordere Teil bricht auseinander und reisst die Passagiere, die hier sitzen, in den Tod.
Der hintere Teil hingegen bleibt einigermassen intakt, hier gibt es Überlebende. An Bord und draussen im Schnee spielen sich dramatische Szenen ab. Im «Blick» erzählt Barry Jones: «Ich hörte lautes Jammern und Stöhnen und das knisternde Geräusch des brennenden Flügels.» Er kriecht durch ein Loch im Rumpf ins Freie, um Hilfe zu holen.
Hansruedi Vögtli sitzt währenddessen zu Hause im Warmen. Gerade vorhin war er noch draussen im Schnee. Obwohl er doch von der Feuerwehr Basel Bescheid erhalten hatte, dass man kein Flugzeug vermisse, machte er sich kurz auf die Suche nach einer möglichen Absturzstelle. «Aber ich lief in die verkehrte Richtung, suchte wegen des dichten Nebels am falschen Ort.»
Hansruedi Vögtli entschuldigt sich sogar beim Flughafen
Danach rief er erneut in Basel bei der Brandwache an. «Ich muss nochmals fragen: Vermisst ihr kein Flugzeug?» Nein, immer noch nicht, bekam er zur Antwort. Vögtli glaubte nun selber, dass er sich wohl getäuscht haben musste. «Ich entschuldigte mich sogar.» Natürlich war es ihm lieber so, als wenn tatsächlich ein Flugzeug abgestürzt wäre. Einigermassen beruhigt kehrte er in sein warmes Haus zurück.
Eine Stunde später klingelt das Telefon, der Flughafendirektor ist am Apparat. Vögtli hat den genauen Wortlaut noch im Ohr: «Loose Si», sagt der Flughafenchef, «loose Si, was hänn Si gnau ghört?» Man vermisse nun doch ein Flugzeug. Vögtli alarmiert die Ortsfeuerwehr.
Selber begibt er sich mit seinen Söhnen zum nahe gelegenen Pfadiheim, in dem dreissig Kinder und Jugendliche ihr Pfadilager abhalten. Obwohl sie nur 200 Meter von der Unfallstelle entfernt sind, haben sie nichts gehört; der halbe Meter hohe Schnee verschluckte die Geräusche des Aufpralls. Gemeinsam machen sich alle auf die Suche.
Schliesslich begegnet Vögtlis Sohn Erich, damals 14-jährig, im Wald einer Gruppe von blutenden Personen, die Englisch sprechen. Er ruft seinen Vater herbei. «Einige von ihnen waren ohne Schuhe unterwegs», erinnert sich dieser, «die hatten sie während des Fluges ausgezogen, weil es so bequemer ist.» Er führt sie zur Herrenmatt, wo sich seine Frau und die Nachbarn um die Verletzten kümmern. Barry Jones erzählt später von «einigen Verständigungsschwierigkeiten», dass die Menschen aber nett und hilfsbereit gewesen seien. «Sie verbanden unsere Wunden und gaben uns Tee und belegte Brötchen.» Hansruedi Vögtli hat unterdessen mit ein paar Helfern die Unglücksstelle aufgespürt. Sie finden einige Verletzte und viele Leichen.
Er erinnert sich, wie er einen Jungen bergen wollte. «Er war zwischen zwei Toten eingeklemmt – und öffnete plötzlich die Augen.» Es ist einer der wenigen erfreulichen Momente, die er an diesem Tag erlebt, ansonsten überwiegt das Grauen. «Vor allem die Schreie der Menschen hallten lange nach.» Psychologische Hilfe gibt es zu jener Zeit noch nicht, mit dem Erlebten muss er alleine fertigwerden.
Die Rettungsfahrzeuge sind mit ihren Sommerreifen chancenlos
Vor Ort sind die wenigen Helfer ebenfalls zuerst auf sich selbst gestellt. Die Hilfe von aussen läuft nur schleppend an. Es herrscht ein riesiges Chaos. Wegen des Schnees sind die Basler Rettungsfahrzeuge mit ihren Sommerreifen chancenlos.
Ein Stromausfall im Gebiet hilft auch nicht gerade, ebenso wenig die Schaulustigen, die sich das Ganze von nah ansehen wollen und damit die Anfahrtswege verstopfen. Die «Basellandschaftliche Zeitung» berichtet in den darauffolgenden Tagen gar von kommerziellen Carfahrten, die in aller Eile mit Fahrtziel Hochwald angeboten worden seien. Als dann einige Bäume wegen der Schneelast über den Zufahrtsstrassen zusammenkrachen, verzögert sich die Ankunft der Rettungskräfte noch mehr. Doch auch informationstechnisch herrscht ein heilloses Durcheinander.
Der Flughafen Basel setzt verschiedene Dienste darüber in Kenntnis, dass ein Flugzeug abgestürzt sei – nicht aber die Feuerwehr Basel und schon gar nicht die Solothurner Polizei, die für Hochwald eigentlich zuständig wäre. Dass die beiden Direktoren des Flughafens Basel-Mulhouse, der Schweizer Stauffer und der Franzose Roques, das Heu nicht auf der gleichen Bühne haben und einander bei Entscheidungen gerne übergehen, hilft ebenfalls wenig. So geht wertvolle Zeit verloren, auch wenn die Untersuchungskommission später – vielleicht etwas beschönigend – festhält, dass deswegen nicht mehr Menschenleben hätten gerettet werden können.
Am Ende des Tages zählen die Verantwortlichen 104 Tote, die in der Turnhalle in Dornach aufgebahrt werden. Zwei Leichen werden erst bei den weiteren Aufräumarbeiten unter den Trümmerteilen entdeckt. Zwei Verletzte sterben Wochen später im Kantonsspital Basel. Insgesamt überleben 37 Personen, wovon einige Heldengeschichten schreiben. So wie die Stewardess Elizabeth Low, die als Einzige ohne einen Kratzer davonkommt und sich sofort daran macht, den Verletzten zu helfen. Eine Woche später ist sie bereits wieder auf einem Flug im Einsatz – ihre ganz eigene Art von Traumabewältigung.
Oder der siebzehnjährige David Besley, der sich beim Absturz das Bein bricht, aber trotzdem seine Mutter und sechs weitere Passagiere aus dem Flugzeug rettet. Danach kehrt er ins Innere zurück, um nach seinem Onkel Doug zu suchen. Er findet ihn im vorderen Teil, wo alle Passagiere umgekommen sind.
Nach seiner Rückkehr nach England wird Besley mit einem Orden ausgezeichnet, er fühlt sich aber trotzdem schlecht. Weil er lebt, während die Nachbarn den Verlust ihrer Liebsten beklagen müssen. Viele Kinder sind auf einen Schlag zu Waisen geworden. Die Solidarität mit den vom Schicksal geplagten Dörfern ist gross. Sammelaktionen zugunsten der Betroffenen bringen Zehntausende von Franken ein. Waisenkinder werden für ein zweiwöchiges Ferienlager in die Schweiz eingeladen. Die Entschädigungen von offizieller Seite für die Hinterbliebenen sind dagegen mickrig. Um deren Höhe zu bestimmen, werden die Einkünfte der verunglückten Personen mitberücksichtigt; viele Passagiere waren jedoch Hausfrauen ohne Einkommen.
«Ich zitterte am ganzen Körper»
Der Flugzeugabsturz hat Hansruedi Vögtlis Leben geprägt. Immer wieder kommt es auf der Herrenmatt zu besonderen Begegnungen mit Angehörigen Überlebender. «Einmal war eine Frau aus Amerika zu Besuch und sagte zu mir: ‹Dank Ihnen gibt es mich.›» Vögtli wurde auch schon gebeten, einen Vortrag über seine Erlebnisse zu halten. Er lehnte zuerst ab, liess sich dann «aus freundnachbarlichen Beziehungen» doch dazu drängen. Beim ersten Mal waren 250 Personen im Saal, «ich zitterte am ganzen Körper». Bei einem weiteren und zugleich letzten Auftritt in Interlaken hörten sogar 500 zu. Er hatte keinerlei Erfahrung mit Vorträgen, wusste aber: «Der Schluss muss stimmen.» Also sagte er: «Für 37 Menschen begann nach dem Absturz in Hochwald ein zweites Leben. 108 hatten dieses Glück nicht. Für sie wollen wir uns erheben.»