Ein Meister der Täuschung
Am Mittwoch letzter Woche las der Autor Charles Lewinsky im Rahmen der Kulturanlässe der FDP in der Trotte. Sein Roman «Kastelau» hat in Fachkreisen wie beim Publikum gepunktet.
Thomas Brunnschweiler
Urs Haller stellte den Gast vor, der dem Fernsehpublikum hauptsächlich durch seine Drehbücher von «Fascht e Familie» und «Fertig Lustig» bekannt ist. Seit «Melnitz» (2006) und «Gerron» (2011) gehört Lewinsky auch zu den anerkannten Vertretern des historischen wie zeitkritischen Romans. Mit der scheinbar historischen Dokumentation «Kastelau», die sich als reine Camouflage herausstellt, hat der vielseitige Autor nochmals einen Gang hochgeschaltet und sich endgültig in die Champions League der Literatur hineingeschrieben.
Scheindokumentarische Fabulierkunst
Täuschte man sich oder wirkte Lewinsky am Anfang der Lesung etwas reserviert? Der Eindruck änderte sich rasch, als der Autor zu lesen und zu erzählen begann. Zuerst las er die erste Seite, in der ein gewisser Samuel Anthony Saunders den Stern von Arnie Walton auf dem «Walk of Fame» attackiert und von der Polizei erschossen wird. Hier findet sich in einer Fussnote der Hinweis auf die Adresse 302 East Melnitz. Obgleich dies nach einem Insiderwitz aussieht, ist es in Wirklichkeit das Einzige, was im Buch historisch nachprüfbar ist.
Lewinsky hat keinen konventionellen Fake-Roman geschrieben, sondern legt den Lesern nur Fragmente vor, die sich im Kopf selbst zu einem Ganzen zusammenfügen. Aus den Papieren des erschossenen Saunders geht hervor, dass dieser die dunkle Vergangenheit des Ehren-Oscar-Preisträgers Arnie Walton alias Walter Arnold aufdecken will, der den Journalisten daran jedoch hindert und sich ihn zum Feind macht. Die fiktiven Papiere, die sich aus Tagebucheinträgen, Tonbandmitschnitten, erfundenen Wikipedia-Einträgen und anderen Dokumenten zusammensetzen, ermöglichen es, die eigentliche Geschichte zu rekonstruieren.
Lügengespinste überall
Es geht um eine kleine Filmequipe der Babelsberger UFA-Studios, die kurz vor Kriegsende Berlin verlassen will, um im sicheren Hinterland einen Film zu drehen. Sie fahren nach Kastelau in Bayern und geraten unter schweren Beschuss der Alliierten. Da die halbe Filmcrew tot ist und Kostüme und der Grossteil der Ausrüstung verbrannt sind, stellt sich die Frage, was nun zu tun ist. Die Resttruppe – halb noch regimetreu, halb opportunistisch schon im Lager des Gegners – beschliesst, so zu tun, als würden sie einen vaterländischen Widerstandsfilm drehen. Und so täuschen sie die Kastelauer, die Berliner Zentrale, aber auch ein Stück weit sich selbst. Lewinsky gelingt es – etwa in den Monologen der Schauspielerin Tiziana Adam –, immer wieder die authentische Sprachebene zu finden. Seine literarische Täuschung, die selbst Täuschung zum Inhalt hat, ist so perfekt, dass viele Leser sie für einen historischen Bericht halten.
Der Roman ist ein Blick in die Werkstatt des Autors und lässt uns – in den Worten von Roman Bucheli – begreifen: «Aus der Geschichte und den Geschichten erfahren und lernen wir am meisten – über uns selbst.» Am Ende konnte das SP-Mitglied Lewinsky mit einem verschmitzten Lächeln mitteilen: «Und jetzt eröffne ich im Namen der FDP den Apéro.»
Charles Lewinsky: Kastelau. Roman. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2014, 398 S., Fr. 33.90.