Amoklauf in Knittelversen
Mit der Livecomic-Oper «Im Herr Miller si Reis ins Morgeland» startete das Neue Theater am Bahnhof fulminant in die neue Spielzeit. Ein Genuss der speziellen Art.
Thomas Brunnschweiler
Die Barockliteratur ist den meisten heute paradoxerweise ebenso fremd wie die klassische Moderne nach Strawinsky. Umso einleuchtender ist es, diese beiden Elemente zu verbinden. In der Livecomic-Oper, die auch Öffentlich-historisches Colonial-Schaustück genannt wird, geht es vordergründig einmal um eine historische Führung im Kloster St. Gallen, die ein etwas an Emil erinnernder Hausmeister (David Bröckelmann) aufgrund der Absenz des Abtes anbietet.
Dabei weckt der Facility Manager ungewollt den Geist von Georg Franciscus Müller (1646–1723), der sich mit einem Reisebericht in Knitttelversen verewigt hat (Codex Sangalliensis Nr. 1311). Müller war ein netter Elsässer, der sich bei der niederländischen Ostindien-Kompanie einschrieb und als Soldat per Schiff nach Südostasien aufbrach. In seinem «Reissbuch» liess er Krokodil, Kokospalme, Walfisch und Menschenfresser persönlich zu Wort kommen. Seinen Nachlass vermachte er schliesslich dem Kloster St. Gallen.
Laterna-Magica-Effekte
Der Bassbariton Robert Koller, der Müller mimt und dessen Reise nochmals nacherzählt, meistert die musikalisch unglaublich anspruchsvolle Aufgabe mit Bravour, auch die oft sirenenartig eingeschobenen Sprünge ins Altregister. Eigentlich plante der Komponist Matthias Heep einen Liederzyklus. Dass nun Koller das gesamte Werk auswendig in dramatisierter Form singen muss, verzögerte den Aufführungsbeginn. Ulrich Scheel greift mit seinem Stift und dem Beamer auf einer optischen Ebene ins Geschehen ein. Er illustriert – ähnlich wie Müller in seiner Handschrift – die Reise, ironisiert sie und setzt schwarzen Humor ein. Dann aber greift der Stift selbst ins Geschehen ein, rückt dem Protagonisten auf den Leib, lässt Klänge und Fantasien sichtbar werden.
Ulrich Scheel wird seinem Ruf als meisterlicher Zeichner einmal mehr gerecht. Jürg Henneberger am Klavier gibt dem Stück als musikalischer Leiter den Puls und engagiert sich nebst der schwierigen musikalischen Aufgabe auch noch körperlich auf der Bühne. Faszinierend ist das Ineinandergleiten verschiedener Ebenen. Da ist die reale Ebene der Zuschauer, die plötzlich zu der Reisegruppe mutiert; dann gibt es die an eine Laterna-Magica-Vorstellung erinnernde Ebene des Comic, die Ebene des Bühnenspektakels und jene, auf der alle Ebenen – zum Beispiel im genüsslichen Betrachten eines Sexheftchens – zusammenfliessen.
Ironisch durchbrochen wird das barocke Schau- und Schauerstück immer wieder durch köstliche Auftritte von David Bröckelmann, sodass auch am Schluss das düstere Memento mori von Müller nicht das letzte Wort behält. Herauszuheben ist neben der stimmigen Ausstattung durch Nives Widauer auch die starke Inszenierung durch Georg Darvas. Ein höchst gelungener Mix verschiedener Medien.