«Wir müssen diese Menschen ernst nehmen»
Seit 20 Jahren beschäftigt sich Fachpsychologe Patrick Gross mit dem Thema Geschlecht. Am Mittwoch letzter Woche hielt er in der Stedtlibibliothek einen Vortrag darüber, welchen Wandel dieses Thema in den letzten Jahren erlebt hat.
Nur rund ein Dutzend Personen — Mitglieder des Stebi-Teams eingeschlossen — fanden letzte Woche den Weg in die Stedtlibibliothek in Laufen, um sich über den Wandel des Geschlechts zu informieren. Organisiert wurde die Veranstaltung im Rahmen der nationalen Kampagne «Wie geht’s dir?» Dass das Thema eigentlich von breitem Interesse sein sollte, legte Patrick Gross, Leiter der Sprechstunde für Geschlechterfragen an der Psychiatrie BL anschaulich dar. Einleitend stellte er fest, dass im Schnitt in jeder Schulklasse eine bis zwei Personen sässen, die nicht genau wissen, welchem Geschlecht sie sich zuordnen sollen: männlich, weiblich oder keinem von beiden. Später im Vortrag würde er diese Aussage noch mit Statistiken aus einer Umfrage in 27 Ländern untermauern: War es in der Generation Baby Boomer (1946-1964) noch weniger als ein Prozent, das sich unter anderem als Transgender (im falschen Körper) oder nichtbinär (weder männlich noch weiblich) identifizierte, sind es in der Generation Z (1997-2012) bereits vier Prozent. Gleiches gilt für die sexuelle Orientierung, die gemäss Gross strikt von der Geschlechtszugehörigkeit zu trennen sei, denn sie hätten nichts miteinander zu tun: In der Generation Z bezeichneten sich neun Prozent der Befragten als bisexuell, in der Generation Baby Boomer waren es noch zwei Prozent. «Ich gehe davon aus, dass diese Werte in der Generation Alpha, die seit 2013 zur Welt kommt, noch steigen wird», so Gross. Doch wie kommt es zu dieser Zunahme? «Geschlecht ist ein sehr komplexes und vielschichtiges Konzept, das psychologische, biologische, soziale und kulturelle Aspekte umfasst. Das Geschlecht liegt hauptsächlich zwischen den Ohren und nicht zwischen den Beinen», erklärte Gross.
Schwierige sprachliche Umsetzung
Während die Gäste des Abends viele Fragen stellten und sich dem Thema gegenüber neugierig und offen zeigten, stellte sich gleichzeitig heraus, wo die Schwierigkeiten liegen, Transgenderpersonen miteinzubeziehen: zum einen in der sprachlichen Umsetzung. Underline, Genderstern, Doppelpunkt — mögliche Schreibweisen existieren einige, umgesetzt werden die wenigsten. «Zu holprig» oder «leseunfreundlich» lauten die Argumentationen gegen die Nutzung dieser Instrumente. «Wir sollten mehr darüber sprechen, wie wir Transgenderpersonen oder Nonbinäre inkludieren. Wenn man nicht korrekt gendert, ist das okay, solange Respekt und Bemühen da sind. Ganz wichtig ist: Wir müssen diese Menschen ernst nehmen.» Mit der Minderheit zu argumentieren, damit sich eine Mehrheit darüber hinwegsetzen kann, gehe nicht, so Gross.
Keine Modeerscheinung
Aussagen wie «das ist doch eine Modeerscheinung», «heute ist es in, queer zu sein» oder «die brauchen doch nur Aufmerksamkeit» lässt der Experte nicht gelten. «Transgenderpersonen sind eine verletzliche und verletzte Gruppe, die viel verbale und sexualisierte Gewalt erlebt. 30 bis 64 Prozent dieser Menschen leiden unter einer Depression, 45 bis 77 Prozent haben Suizidgedanken, 28 bis 52 Prozent haben einen Suizidversuch hinter sich. Unsere Gesellschaft ist zwar so offen wie noch nie, gleichzeitig gibt es aber so viele Gewaltakte gegen queere Menschen, wie noch nie», gibt Gross zu bedenken.