Vergessen im Lockdown
Für Menschen mit psychischen Leiden ist das persönliche Gespräch mit dem Therapeuten oft wie ein Strohhalm in der Einsamkeit.
Für Mario (Name der Redaktion bekannt) ist der Dienstag ein besonderer Tag – dann nämlich hat er seine Therapiestunde beim Psychiater. Für ihn, der an einer Angststörung leidet und deshalb seit Jahren krankgeschrieben ist, ist der Gang zum Arzt fast die einzige feste Struktur während der ganzen Woche. Wegen der Corona-Massnahmen hat sein Psychiater darauf bestanden, die Sitzungen auf digitalem Weg durchzuführen. Mario wollte «nicht schwierig sein» und akzeptierte. Seither braucht er nur noch aus dem Haus, um einzukaufen.
Vom Rückzug in die Isolation
Menschen wie Mario trifft der Lockdown besonders hart, wobei sie in der öffentlichen Wahrnehmung wenig vorkommen: «Personen mit psychischen Beeinträchtigungen, die bereits vor Corona sozial isoliert waren, leiden jetzt besonders. Sie sind zusätzlich eingeschränkt und in ihren sozialen Kontakten stärker beschnitten als andere. Wo bei den einen beispielsweise nun eine Depression beginnt, verstärkt sich diese bei Menschen, die bereits an einer chronischen Depression leiden», sagt ein Sozialpädagoge aus der Region gegenüber dem Wochenblatt, der aus Rücksicht auf seine Klienten anonym bleiben will. Eine zusätzliche Belastung stelle die eingeschränkte Erreichbarkeit ihrer Therapeutinnen und Therapeuten dar. «Eine Psychotherapie bedingt den direkten Kontakt, Sitzungen per Video oder Telefon stellen oft eine Hürde dar.» Seiner Meinung nach werde bei der Ausführung der Corona-Massnahmen den psychischen Folgen zu wenig Beachtung geschenkt. Personen, die ohnehin zum sozialen Rückzug neigen, erleben nun ausgeprägte Isolation.
Diese Erfahrung hat auch Irina Weber, abteilungsleitende Psychologin an der Tagesklinik Münchenstein, die zur Psychiatrie Baselland (PBL) gehört, gemacht. «Der Tagesklinik kommt ein besonderer Stellenwert zu, weil Begegnung und soziales Miteinander noch möglich ist.» Gegenüber dem Wochenblatt sagt sie: «Grundsätzlich bieten wir in dem an die Tagesklinik angegliederten Ambulatorium drei verschiedene Möglichkeiten für unsere Gespräche an: persönlich unter sorgfältiger Einhaltung der Hygienemassnahmen, telefonisch oder per Videogespräch. Es gilt jeweils abzuwägen, was im individuellen Fall zu bevorzugen ist.» Im Ambulatorium hätte man auch die Erfahrung gemacht, dass manche Patienten die Durchführung der therapeutischen Gespräche per Video bevorzugen und sich damit sicherer fühlen. Es sei aber wichtig, im Vorfeld zu besprechen, welche Regeln für das Videogespräch gelten – etwa für das Gespräch einen angemessenen Platz in der Wohnung zu wählen und sich so anzuziehen, als würde man zu einem externen Termin aus dem Haus gehen. Aber: «Für stark isolierte Patientinnen ist der Gesprächstermin häufig der einzige Termin in der Woche. Er gibt ihnen die Möglichkeit, das Haus zu verlassen und eine Routine aufrechtzuerhalten. In diesen Fällen stellen wir natürlich die Möglichkeit zur Verfügung, zu uns zu kommen.»
Einsamkeit und Geldsorgen
«Die Krise trifft diejenigen in unserer Gesellschaft am stärksten, die bereits vorher mit Armut und sozialem Ausschluss konfrontiert waren», sagt der Reinacher SP-Einwohnerrat Claude Hodel. Er setzt sich politisch und in der Organisation ATD Vierte Welt ehrenamtlich für die Bedürfnisse armutsbetroffener Menschen ein, die oft auch unter psychischen Belastungen oder gar Beeinträchtigungen leiden. Er steht in regelmässigem Kontakt mit Betroffenen aus der Region, die sich an ihn wenden, wenn sie Hilfe oder Rat benötigen: Da sei etwa die 45-jährige Katharina, die von der Sozialhilfe lebt und unter der Angst leidet, dass niemand mehr zu ihr in die Wohnung kommt, um mit ihr die Rechnungen zu erledigen. Oder der alleine lebende Rentner Hans, dessen einziges Vergnügen es war, ab und zu in einem Restaurant ein Bier zu trinken, um wenigstens noch etwas Gesellschaft zu haben – Freunde und Verwandte hat er schon lange nicht mehr. «Der Umgang mit der Corona-Situation ist sehr unterschiedlich. Die einen nehmen es gelassen, da sie vorher schon alleine waren, wenig Kontakt hatten und ihr Leben von Einsamkeit und Durchhaltewillen geprägt war. Die anderen hadern noch mehr als vorher, müssen zusätzlich Psychopharmaka schlucken und sind sehr gereizt, weil sie keine Kontakte mit anderen Menschen pflegen können», sagt Hodel.
Rat und Unterstützung gesucht
Der Verein Phari betreibt in Reinach eine Lebensmittelabgabestelle für Menschen, denen das Geld fürs Notwendigste nicht reicht. «Die Zahl der Personen, die bei uns Rat und Unterstützung suchen, hat aufgrund der Coronakrise enorm zugenommen», stellen die Verantwortlichen Gabi Huber und Brigitte Marques fest. Der zusätzliche finanzielle Engpass sei für jene, die schon vor der Pandemie am Existenzminimum lebten, eine grosse Belastung. «Viele unserer Bezugspersonen arbeiten in Tieflohnbranchen und haben grosse Angst, keine guten Zukunftsperspektiven mehr zu haben.» Einige hätten bereits ihre Arbeitsstelle verloren, andere sind temporär angestellt und bekommen keine Aussichten auf eine Festanstellung. Viele Familien hätten grosse Schwierigkeiten, ihre Fixkosten, wie Miete, Strom oder Krankenkasse, zu bezahlen.
Wegen der BAG-Massnahmen bleiben bis Ende Februar die Abgabestellen geschlossen. «Auch unsere Bistro-Ecke steht leer und wir hören, dass die wöchentlichen Begegnungen und Kontakte unseren Besucherinnen und Besuchern fehlen, denn gerade in dieser Corona-Zeit leben viele von ihnen isoliert und sind einsam.»