«Faust ist tatsächlich unsterblich»
Andrea Pfaehler führt bei «Faust» Regie. Im Interview erzählt sie, was das Stück besonders macht und welche Herausforderungen es zu meistern galt.
Wochenblatt: Vergangenes Wochenende fand die Premiere von «Faust» statt. Wie haben Sie diese erlebt?
Andrea Pfaehler: Ich war erstaunt, wie viele Leute wir im Saal hatten. Es war eine sehr aussergewöhnliche Situation wegen Corona, denn wir wussten lange nicht, ob und wie wir spielen dürfen und ob die Leute überhaupt kommen würden. Natürlich arbeiteten wir rasch ein Schutzkonzept aus – dennoch wussten wir bis kurz vor der Aufführung nicht, ob und unter welchen Bedingungen wir spielen dürfen. Es war ein wahnsinniges Bangen und Hoffen. Nicht zuletzt auch dank der Grösse des Saals konnte die Premiere dann doch stattfinden. Und es war fantastisch; das Publikum war total präsent. Trotz der schwierigen Vorbereitungsphase lief zum Schluss alles wie am Schnürchen. Dennoch arbeiten wir weiter am Stück; das ist ein fortlaufender Prozess.
Der Saal konnte wegen des Schutzkonzeptes nur etwa zur Hälfte gefüllt werden. Was bedeutet das für Sie?
Finanziell ist das für uns natürlich schwierig. Aber das war schon klar, als wir die Entscheidung trafen, überhaupt zu spielen. Das Ensemble war so motiviert und alle waren sich einig: Wir wollen auch spielen, wenn der Saal leer bleibt. Es ist toll, dass wir zeigen konnten, was wir erarbeitet haben.
Das Stück wurde von ursprünglich 17 Stunden auf neuneinhalb gekürzt. Hat es dadurch verloren?
Nein, für mich hat es gewonnen, weil es so viel mehr auf den Menschen aus dem 21. Jahrhundert zugeschnitten ist. Wir sind uns schnellere Prozesse gewohnt und können besser damit umgehen, dass Brüche härter gespielt werden, als die Menschen zu Goethes Zeit. Mein Ziel war es auch, das Stück so zu verschlanken, dass es nicht nur «Faust»-Liebhaber anzieht. Dennoch bleiben wir konform mit der Geschichte. Ich verfolge ein klassisch konventionelles Theaterkonzept.
Bei der Länge der einzelnen Szenen sind Durchläufe wahrscheinlich schwierig. Wie wurden die Szenen geprobt? Welche Schwierigkeiten gab es?
Die Proben fanden von Januar bis Juni statt, allerdings unterbrochen von einem Monat Corona-Lockdown. Am Goetheanum gibt es kein festes Schauspielensemble. So mussten die Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich teilweise gar nicht kannten, innerhalb kürzester Zeit zu einem Ensemble zusammenwachsen. Die grösste Herausforderung war die Koordination der Proben, denn die meisten Schauspielerinnen und Schauspieler hatten noch andere Engagements. Meine Regieassistentin war praktisch ausschliesslich mit der Organisation der Proben beschäftigt. Insgesamt gab es drei ganze Durchläufe, die Hauptprobe und schliesslich die Generalprobe.
Hat sich Ihr Bezug zum Stück während der Proben verändert?
Total! Zuerst steht immer die Arbeit am Text, dann kommt die konzeptionelle Phase hinzu, in der es um die Ausarbeitung der Darstellung auf der Bühne geht. Schliesslich tritt eine Schauspielerin auf die Bühne und nimmt die Worte in den Mund. Erst dann wird der Text lebendig und man entdeckt immer wieder neue Facetten. Früher habe ich diesen Ausspruch, dass Goethe ewig ist, etwas belächelt. Heute muss ich sagen: Man entdeckt immer wieder neue Bezüge in «Faust» und erhält andere Zugänge. Das ganze Werk ist ein Prozess und es stimmt: Goethes «Faust» ist tatsächlich unsterblich.
Versteht man das Stück überhaupt, wenn man «Faust I» und «Faust II» nicht gelesen hat?
Ja, ich hoffe sehr, dass dies durch die gekürzte Fassung viel einfacher wird. Unser Ziel war es, die Essenz des Stücks herauszuarbeiten und leichter zugänglich zu machen. «Faust» wird ja auch an Schulen oft gelesen, deshalb wollten wir Schulklassen an die Generalprobe einladen. Denn es ist mir ein grosses Anliegen, junge Leute ins Publikum zu bringen. Aber Corona machte uns leider einen Strich durch die Rechnung. Im Sommer 2021 wird «Faust» noch einmal am Goetheanum zu sehen sein. Dann wollen wir die Schülerinnen und Schüler mehr miteinbeziehen.
Eurythmie, eine anthroposophische Bewegungskunst, spielt eine grosse Rolle in der Aufführung am Goetheanum. Wieso?
Rudolf Steiner hat sich stark mit Goethes Faust auseinandergesetzt, als er die Eurythmie ins Leben rief. Sie wurde anhand der Szenen in «Faust», in denen es um Elementarwesen, Geister, Engel geht, veranschaulicht. So hat Steiner Szenen aus «Faust» mit der Eurythmie inszeniert, beides wurde schon früh verquickt.
Weshalb lebt der zweite Teil stärker von der Eurythmie als der erste?
Der ganze zweite Akt ist ein Traum von Faust, in dem er auf die Suche nach Helena in Griechenland geht. Und damit klar wird, dass das nicht physisch ist, wird mehr mit der Eurythmie ausgedrückt.
Was kann der Zuschauer, die Zuschauerin nach den neun Stunden mitnehmen?
Goethe selbst sagte, er wolle ein Stück schreiben, aus dem sich jeder und jede etwas rausnehmen kann. Ich glaube, in dieser ganzen Geschichte findet jeder und jede einen Protagonisten, mit dem er oder sie sich identifizieren oder mit dem man mitfühlen kann. Dank der Verschiedenheit der Charaktere und Situationen ist für alle etwas dabei.
Welches ist Ihr Highlight in «Faust»?
Der fünfte Akt ist mein Lieblingsakt im zweiten Teil. Weil es uns so radikal gelungen ist zu zeigen, was passiert. Im ersten Teil ist es die Szene «Trüber Tag», wo Faust im absoluten Nichts landet und merkt, dass er keinen Ausweg mehr hat. Faust erkennt, wie er getäuscht wurde und nicht mehr ohne Mephisto leben kann. Er erkennt, dass er dazu verführt wurde, eine total perverse Party zu feiern, während Gretchen im Kerker weilt. In dem Moment, in dem Faust diese Erkenntnis hat und Mephisto hinter ihm steht und sagt: «Sie ist die Erste nicht» – da kommen mir die Tränen. Denn da lernen wir die Empathielosigkeit von Mephisto kennen. Und Faust fragt daraufhin, wieso nicht eine Frau für alle Frauen dieses Leid tragen kann. Dieses Thema ist so aktuell, da schaudert’s mich jedes Mal.
Würden Sie im Nachhinein etwas anders machen?
Ja, ich würde die Zusammenarbeit von Eurythmie und Schauspiel intensivieren. Aus Zeitgründen mussten Szenen von den Schauspielern und den Eurythmisten parallel geprobt werden. Erst später wurden die Szenen zusammengebracht. Ich würde mir wünschen, dass wir die Szenen beim nächsten Mal früher zusammen erarbeiten, sodass der Übergang von Schauspiel und Eurythmie noch fliessender ist.