«Es kann gut und gesund sein, verschiedene Wahrheiten zuzulassen»
Für ihr Stück «In dubio – eine Gerichtsrecherche» hat sich die Schweizer Autorin und Regisseurin Maria Ursprung intensiv mit dem Justizsystem auseinandergesetzt. Im Interview erklärt sie, warum es den Zweifel nicht nur in der Rechtsprechung braucht.
Sie haben für Ihr Stück zahlreiche Gerichtsverhandlungen besucht und Interviews mit Richterinnen, Anwälten etc. geführt. Wie ist die Idee zu dieser Auseinandersetzung mit dem Justizsystem entstanden?
Das hatte mehrere Gründe. Einerseits stand zu der Zeit das Aargauer Obergericht medial stark in der Kritik, weil überdurchschnittlich viele Entscheide wieder vom Bundesgericht aufgehoben wurden, was ein Zeichen dafür sein kann, dass dort nicht sauber gearbeitet wurde oder dass Richterinnen und Richter mit Urteilen politische Zeichen setzen wollten. Das hat mich interessiert. Mich interessieren Themen, über die ich nicht so viel weiss und die alle etwas angehen. Und das ist hier der Fall: Entscheide am Gericht prägen massgeblich die Art und Weise, wie wir zusammenleben. Daneben hatte mich schon länger das Thema Zweifel beschäftigt, die Schwierigkeit, etwas zu entscheiden, obwohl man Zweifel hat. Dieses Thema kam aus der Pandemiezeit. Dort war man oft in der Situation, in kurzer Zeit einen Entscheid fällen zu müssen, von dem man nicht sicher war, ob alle Faktoren berücksichtigt worden waren.
Wie haben Sie die Verhandlungen erlebt bzw. was hat Sie in den Gesprächen überrascht?
Ich ging mit dem Impuls dorthin, dass der Zweifel sicher einen grossen Teil der Gerichtsverhandlungen ausmacht, und musste merken, dass dies nicht unbedingt so ist. Dazu muss man wissen, dass in der Schweiz Aktenprozesse geführt werden. Es wird sehr viel anhand der Akten vorbereitet und vorbesprochen, und die Entscheidenden tauschen sich vor der Verhandlung bereits stark aus. So wie wir das aus Fernsehserien kennen, dass in der Verhandlung selbst die grosse Wendung passiert, das gibt es in der Schweiz praktisch nie.
Spielt das Stück daher auch nicht im Gerichtssaal selbst?
Ja, das habe ich sehr bewusst gemacht. Ich wollte nicht den einen Gerichtsfall erzählen, zu dem das Publikum dann einen Entscheid fällen muss. Es sollte nicht um ein konkretes rechtliches Thema gehen, zu dem man sich eine Meinung bilden soll. Unser Thema ist der Zweifel selbst, den man in den Momenten des Entscheidenmüssens erlebt.
Der Untertitel Ihres Stücks heisst «Eine Gerichtsrecherche». Ist das Stück in erster Linie eine Dokumentation?
Es ist kein Dokumentartheater. Es hat dokumentarische Anteile, und zwar in der Figurenrede. Das, was die Figuren sagen, ist teilweise den Interviews entnommen. Aber die Story – das, was auf der Bühne passiert – ist fiktiv, auch wenn es oft inspiriert ist von den Gerichtsverhandlungen, die wir besucht haben.
Das Stück spielt nicht im Bühnenraum, die Protagonisten tragen die Namen der Schauspielenden. Lassen Sie bewusst gewisse Formen der Verfremdung weg, um Zweifel zu streuen, was hier Dokumentation und was Fiktion ist?
Es war meine Absicht, das Stück so zu konzipieren, dass die Zuschauenden nie genau wissen, wem sie nun glauben sollen oder nicht. Ich würde sogar sagen, ich verzichte nicht auf einen Verfremdungseffekt, sondern ich erhöhe diesen, indem die Schauspielenden ihre eigenen Namen tragen, aber gleichzeitig Figuren spielen. Dadurch wird das, was sie machen, etwas wahrer, denn sie bleiben sich selbst.
Welche Art von Zweifel möchten Sie mit Ihrem Stück anregen?
Vielleicht, dass es keine absolute Wahrheit gibt. Dass sehr vieles, ja eigentlich alles, in dem wir leben, immer auch perspektivisch ist. Ich arbeite in meinem Stück stark mit Perspektiven und Widersprüchen. Ich möchte, dass die Leute rausgehen und merken, dass es gut und gesund sein kann, verschiedene Wahrheiten zuzulassen, um eine Wirklichkeit zu begreifen.
Glauben Sie, der Zweifel hat gegenwärtig einen schweren Stand?
Unsere schnelllebige Zeit führt dazu, dass Meinungen vermehrt kurz und prägnant sein müssen. Es ist nicht unbedingt der Zweifel, der es schwer hat, komplexe Zusammenhänge haben es schwer. Der Zweifel ist aber ein Hinweis darauf, dass etwas komplex ist.
Woran haben Sie zuletzt gezweifelt?
Wenn ich mich im künstlerischen Prozess für ein neues Thema entscheiden muss, habe ich oft grosse Zweifel, ob es das Richtige ist, weil ich mich in meiner Arbeit immer intensiv und über einen langen Zeitraum mit einem Thema beschäftige und mich dem richtigen Inhalt verpflichten will. Interessanterweise hatte ich aber gerade bei «In dubio» keine Zweifel.
Die Autorin und ihr Stück
Maria Ursprung (*1985 in Solothurn) studierte Theaterwissenschaft und Germanistik an der Universität Bern und der Freien Universität Berlin, später literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut. Inszenierungen u. a. am Thalia Theater Hamburg, am Konzerttheater Bern, am Theaterhaus Jena und in der freien Szene. Sie schreibt Theaterstücke, Hörspiele und Kurzprosa. Nebst Schauspiel inszeniert sie szenische Konzerte. Ursprung war Hausautorin am Theater St. Gallen, ebenso Hausautorin am Deutschen Theater Berlin. Seit 2022 ist sie Teil der Co-Leitung von Theater Marie. Sie lebt in Solothurn.
«In dubio – eine Gerichtsrecherche»
Im Foyer eines Gerichtsgebäudes kommt es zu einem zufälligen Wiedersehen zwischen einer Richterin (Miriam Japp) und einem Rechtsanwalt (Manuel Bürgin). Nach der letzten Begegnung im Studium könnten ihre Erinnerungen kaum unterschiedlicher sein. Während Schuldzuweisungen zunehmen, versucht ein Gerichtsschreiber (Josef Mohamed) zwischen den beiden zu schlichten – oder zu richten.
Vorstellungen im Neuen Theater Dornach: 8. und 9. Februar jeweils um 19.30 Uhr.