Christoph Martin wer?

Bis heute steht der ­Schriftsteller Christoph Martin Wieland im Schatten seiner Zeitgenossen Goethe und Schiller. Zu Unrecht, schreibt der Publizist Jan Philipp Reemtsma in seiner Wieland-Biografie.

Hat die erste Wieland-Biografie seit 70 Jahren veröffentlicht: Jan Philipp Reemtsma nach seinem Auftritt an der Bar der Wydekantine. Foto: Benedikt Kaiser
Hat die erste Wieland-Biografie seit 70 Jahren veröffentlicht: Jan Philipp Reemtsma nach seinem Auftritt an der Bar der Wydekantine. Foto: Benedikt Kaiser

«Christoph Martin Wieland: Die Er­findung der modernen deutschen Lite­ratur», lautet der provokante Titel der kürzlich erschienenen umfassenden Wieland-Biografie des deutschen Pub­lizisten, Literatur- und Sozialwis­senschafters und Mäzen Jan Philipp Reemtsma. Dieser Titel sei angebracht, erläuterte Reemtsma vergangenes Wochenende in der Dornacher Wydekantine im Gespräch mit Moderator Gerwig ­Epkes. «Wieland schrieb den ersten ­deutschen Roman, die erste moderne deutsche Oper, war erster deutscher Shakespeare-Übersetzer und erster deutscher politischer Journalist.»

Von überdrehter Frommheit zum erotischen Autor

Doch wer war dieser literarische Tausendsassa? Geboren 1733 bei Biberach im heutigen Baden-Württemberg als Sohn eines reformierten Pfarrers, beschäftigt sich Wieland schon in seiner Jugend mit Literatur und verschlingt die lateinischen Klassiker. Seine ersten eigenen Verse, die er als junger Mann schreibt, schickt er nach Zürich zu Johann Jakob Bodmer. «Bodmer war von der Qualität des jungen Wieland beeindruckt und lud ihn nach Zürich ein», erzählt Reemtsma.

Nach einigen Jahren in der Schweiz zieht es Wieland 1760 nach Biberach zurück. In dieser Zeit verändert sich sein Schreibstil diametral. Der junge Wieland habe gegen seine spielerische, experimentelle Natur «überdreht fromm» geschrieben, sagt Reemtsma. «Plötzlich findet sich viel Erotik in seinen Werken.» Während dieser Wandel von aussen nach einem Bruch aussehe, habe Wieland dies als normale Entwicklung empfunden und deshalb auch nie kommentiert.

Der neue Wieland wird in der Folge innert kürzester Zeit zum bekanntesten und populärsten Autor Deutschlands. Neben seinen eigenen Werken übersetzt Wieland in dieser Zeit auch Shakespeare auf Deutsch. Eine Meisterleistung, meint Reemtsma, zumal Wieland sich Englisch selbst beigebracht und zudem nur ein Französisch-Englisch-Wörterbuch für die Übersetzung zur Verfügung gehabt habe. In seiner Shakespeare-Übersetzung führt Wieland mit Begriffen wie «Abschied nehmen» bis hin zu «Wintermärchen» zahlreiche neue deutsche Ausdrücke ein, die heute zum standardi­sierten Wortschatz gehören. Auch die Sprichwörter «den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen» oder «auf jeden Topf passt ein Deckel» sind Wieland zuzuschreiben.

Erfinder der Weimarer Klassik

1772 zieht Wieland als Erzieher der jungen Söhne von Herzogin Anna Amalia nach Weimar, wo er bis zu seinem Tod gut 40 Jahre später bleiben wird. Während dieser Zeit formt er das Provinzstädtchen Weimar zur Kultur­hauptstadt, indem er unter anderem die Zeitschrift «Der Teutsche Merkur» in Anlehnung an den einflussreichen «Mercure de France» gründet. «Dank Wielands Bemühungen wurde Weimar zum literarischen An­ziehungspunkt und ist es bis heute geblieben», kommentiert Reemtsma diesen Lebensabschnitt Wielands. So lockt der Schriftsteller Johann Wolfgang von ­Goethe nach Weimar, nachdem dieser Wielands Oper kritisiert hat. «Goethes Angriff war eine Generationenrebellion», erklärt Reemtsma, mit der sich Goethe Aufmerksamkeit habe sichern wollen. Wielands Bewunderung für Goethes Kritik sei dabei typisch für Wieland, führt Reemtsma weiter aus: «Er erkannte und respektierte Qualität, auch wenn ihm Form oder Inhalt nicht gefiel.»

Kurze Zeit nach Goethe gesellt sich ­Johann Gottfried Herder und ein wenig später auch Friedrich Schiller zu Wieland und Goethe, womit das Viergestirn von Weimar komplett ist.

Biografie als Summe einer lebenslangen Beschäftigung

Reemtsmas umfassende Wieland-Bio­grafie ist die Summe einer lebenslangen Beschäftigung. «Seit ich Wieland als Schüler entdeckt habe, lässt er mich nicht mehr los», sagt der Publizist. Seine Wieland-Biografie sei nicht zuletzt ein Versuch, die eigene Freude an Wieland weiterzugeben. «Ich empfehle allen, einmal Wielands Brille aufzusetzen und in einem seiner Romane mit ihm die Welt zu betrachten.» Auf die Frage von ­Moderator Epkes, ob die Schwierigkeit von Wielands Werken ein Grund sein könnte, dass dies viele bis anhin nicht getan hätten, antwortet Reemtsma trocken: «Literatur bestimmter Qualität ist immer ein bisschen anstrengend.»

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