Als das Goetheanum niederbrannte

In der Silvesternacht vor 100 Jahren wurde das erste Goetheanum bei einem Brand komplett zerstört. Schnell kam der Verdacht der Brandstiftung auf. Die Brand­ursache konnte jedoch nie geklärt werden.

Besondere Stimmung: Das Goetheanum wurde im Rahmen der Gedenkfeier beleuchtet. Foto: Esther Gerster
Besondere Stimmung: Das Goetheanum wurde im Rahmen der Gedenkfeier beleuchtet. Foto: Esther Gerster

Ein schauriger Schein überstrahlte das Dorf, und als die Neujahrsglocken das Jahr 1923 einläuteten, brach der Bau mit den zwei Kuppeln im Brausen der Flammen auf dem Dornacher Hügel in sich zusammen. Das erste Goetheanum aus Holz, zwei Jahre zuvor eingeweiht und von Künstlern aus ganz Europa konzipiert, war zerstört. Am Neujahrsmorgen waren die Basler Trams, die Richtung Dornach fuhren, so überfüllt, dass die Schaulustigen lange Wartezeiten in Kauf nehmen mussten, schrieb die «National-Zeitung». Davon liessen sich die Leute nicht abhalten. In die Neugierde mischte sich Schadenfreude. Die fremdartige Glaubensgesellschaft um Rudolf Steiner, die sich zehn Jahre zuvor auf dem Hügel angesiedelt hatte, wirkte vor der katholischen, ländlichen Lebenswelt des Schwarzbubenlandes exotisch. Der katholische Pfarrer in Arlesheim, Max Kully, tat sich mit apokalyptischen Drohungen besonders hervor.

Bis heute gibt es offene Fragen

War es Brandstiftung? Oder ein Unglücksfall, wie er jedes Gebäude treffen kann? Was in jener Nacht geschah, wurde nie im Detail geklärt. Dabei gab sich der Dornacher Dorfpolizist, Polizeiwachtmeister Meister, alle Mühe, die Geschehnisse aus den verkohlten Balken zu rekonstruieren. Als gesichert gilt, dass ein Schwelbrand in der Wand sich zum Vollbrand entwickelte. Dass die Gerüchte nie verstummten, erklärt sich nicht allein dadurch, dass die Anthroposophische Gesellschaft die Geschädigte war. In der Brandruine wurden die sterblichen Überreste eines Mannes gefunden, die zum vermissten Arlesheimer Uhrmacher Jakob Ott passten. Dieser hatte sich kurz zuvor den Anthroposophen angeschlossen.

Die Volksmeinung war rasch gemacht: Ott war der Brandstifter. Das Warum und Wie des angeblichen Brandanschlags zimmerten sich Bevölkerung und Medien je nach Sympathie oder Antipathie zusammen. Aus der Distanz eines Jahrhunderts ist bedenkenswert, was die Nachfahren der Direktbetroffenen denken. Walter Kugler, ehemaliger Leiter des Rudolf-Steiner-Archivs und emeritierter Kunstprofessor von Oxford, sagt: «Heute wie damals gehen wir davon aus, dass es Brandstiftung war, und zwar von unbekannter Hand. Ott erscheint als Brandstifter unwahrscheinlich, selbst wenn die in der Brandruine gefundenen Teile eines Skeletts möglicherweise ihm zugeordnet werden können.»

Kurzschluss sein unwahrscheinlich

Der damaligen Brandermittlung stellt er ein gutes Zeugnis aus: «Es ist erstaunlich, wie Polizist Meister und die Solothurner Behörden sich in die Sache reinknieten und was mit den damals doch recht bescheidenen Mitteln herausgefunden wurde.» Dass der Name des verschwundenen Uhrmachers noch heute als Brandstifter herumgeboten wird, verweist Kugler ins Reich der Verschwörungstheorien. Für ihn als Akademiker zählten nur Erkenntnisse, die sich wissenschaftlich erhärten lassen.

Er verneint einen möglichen Kurzschluss: «Kurz bevor um zehn Uhr am Silvesterabend der Brand gemeldet wurde und mehr als eine Stunde darüber hinaus brannte im Goetheanum elektrisches Licht.» Ein Defekt an der Elektroanlage oder an einem angeschlossenen Gerät scheidet für ihn deshalb aus. Weiter argumentiert Kugler, dass an der Stelle des Schwelbrandes gemäss Bauplänen keine Kabel in der Wand verlegt gewesen seien.Deshalb steht für ihn fest: Es muss Brandstiftung gewesen sein.

Gerüchte drei Generationen später lebendig

Warum kommt die Geschichte sogar drei Generationen später nicht zur Ruhe? Auch das ist für Walter Kugler klar: «Wir haben mehrfach erlebt, dass Leute aus dem Umfeld des Goetheanums oder ehemalige Mitarbeitende aus einer Enttäuschung oder Besserwisserei heraus Verschwörungstheorien in die Welt gesetzt haben», sagt er. Zum Beispiel, dass irgendwelche «okkulten Bruderschaften» das Goetheanum angezündet hätten.

Die Untersuchungsbehörden hätten sich davon nicht beirren lassen, sondern sich auf die technischen Gegebenheiten des Gebäudes gestützt. Kugler argumentiert weiter: «Die Versicherung hat bezahlt, und zwar schon drei Monate nach dem Brand.» Das Geld habe als Start­kapital für das heutige Goetheanum gedient, das zwischen 1924 und 1928, diesmal ganz aus Beton, errichtet wurde.

Gegen Anfeindungen hat sich die Anthroposophische Gesellschaft ein dickes Fell zulegen müssen. Kugler: «Verschwörungstheorien oder Mystizismen, wie ich sie nenne, haben schon die Person von Rudolf Steiner begleitet.»

Ein Saal zum Bersten voll

Zum 100. Jahrestag befasste sich die Anthroposophische Gesellschaft ausgiebig mit dem Goetheanum-Brand. Sie hat dem Thema die jährliche Weihnachtstagung gewidmet sowie eine Publikation. Architektonisch und weltanschaulich näherte man sich dem zerstörten Bauwerk an. Die Veranstaltung war äusserst gut besucht, der Grundsteinsaal war bei den Feierlichkeiten um Mitternacht bis auf den letzten Platz besetzt. Gedenkansprachen kamen unter anderem von Regierungsrat Remo Ankli und Gemeindepräsident Daniel Urech. Die letzten Besucherinnen und Besucher verliessen das Goetheanum in den frühen Morgenstunden.

Ausstellung zum ersten Goetheanum. Goetheanum Dornach, täglich von 9 bis 20 Uhr. Bis 10. April.

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