Seit zehn Jahren Waggis – trotz allem
Mattia Cattelan lässt sich nicht unterkriegen: Trotz einer schweren Muskelerkrankung war er als Riesenwaggis am Basler Cortège dabei.
Die Einsicht, dass der Tod zum Leben gehört, gewinnt eine ganz konkrete Bedeutung, spricht man mit Mattia und Anneli Cattelan. Für starken Lebenswillen steht ein Jubiläum, das der 26-jährige Münchensteiner in diesem Jahr feiert: Zum zehnten Mal war er als «Duchenne-Waggis» mit einer riesigen Larve am Basler Cortège dabei. Für Mattia Cattelan ist das keine Selbstverständlichkeit, leidet er doch seit seiner Kindheit an Duchenne-Muskeldystrophie, die seinem Alter Ego, dem Waggis, den Namen gibt. Die unheilbare Erkrankung führt zu fortschreitendem Muskelschwund, Betroffene sind auf Rollstuhl und umfassende Unterstützung angewiesen, die Lebenserwartung liegt heute bei rund 35 Jahren. Mattia war sechs Jahre alt, als die Diagnose gestellt wurde. Seit da führe die Familie «ein Leben im Jetzt», wie es die Mutter sagt und hinzufügt: «Hat Mattia einen Wunsch, versuchen wir, ihn umzusetzen.» Der junge Mann ist wie sein Vater begeisterter Fasnächtler, die Familie setzte alle Hebel in Bewegung, um ihm eine Teilnahme zu ermöglichen. Die Idee, sich als Duchenne-Waggis in das närrische Getümmel zu werfen, entstand 2013. «Ich sagte meinen Eltern, dass ich als Waggis an die Fasnacht gehen wolle. Wir überlegten, wie das zu bewerkstelligen wäre, und kamen darauf, einen Waggis-Kopf zu bauen, der über meinen Rollstuhl passt», erinnert sich Mattia Cattelan. Die Familie liess ihre Kontakte spielen und prompt fand sich mit Boris Gil ein Bühnenbildner und Schnitzer am Theater Basel, der sich bereit erklärte, eine solche Larve anzufertigen. «Wir haben die Larve für die Fasnacht 2014 bauen lassen», sagt Anneli Cattelan und hält inne – bewegt fährt sie fort: «Wir dachten, dass die Larve einmal zum Einsatz kommen würde, denn wir rechnen jedes Jahr mit Mattias Tod. Nun ist er zehn Jahre als Waggis unterwegs. Das ist ein Geschenk.»
Pia Inderbitzin, Obfrau der Basel Fasnacht bis 2023, unterstützte die Idee von Anfang an. Nimmt Mattia als Waggis an der Fasnacht teil, wird er von vielen Helferinnen und Helfern unterstützt, die etwa herumliegende Kartons, Plastikteile oder Orangen aus dem Weg räumen. Dabei fährt er mit dem Rollstuhl einer Wagenclique hinterher, weil sich am Wagen das Ladegerät für den Rollstuhl befindet. «Fasnacht ist für mich schön, wenn ich das Personal dabeihabe», scherzt Mattia Cattelan. Mit seiner Larve sei er an der Fasnacht als Rollstuhlfahrer integriert, gehöre dazu – gerade Kinder schauten gerne in die grossen Nasenlöcher des Waggis, um zu sehen, wer sich darin befindet.
Alle Hebel in Bewegung gesetzt
Fasnacht ist nicht das einzige Hobby, das Mattia Cattelan umtreibt, spielt er doch noch Theater und E-Rollstuhl-Hockey. «Beim Sport kann ich die Kräfte, die ich noch habe, einsetzen», sagt er. Dafür ist Mattia auf einen kostspieligen Sportrollstuhl angewiesen. Um ihrem Sohn sowie anderen Menschen, die einen Rollstuhl brauchen, Hockey zu ermöglichen, gründete die Mutter kurzerhand und gemeinsam mit einer Kollegin die «Red Eagle», die erste Rollstuhl-Hockey-Mannschaft in Basel samt dazugehörigem Förderverein. Mattia und seine Mutter haben angesichts der Herausforderungen, die das Leben an sie stellt, einen für Aussenstehende eigentümlichen Humor entwickelt. Mattia soll einmal gesagt haben: «Ich möchte meine Memoiren schreiben. Das machen doch Leute, bevor sie sterben.» Da Mattia aufgrund seiner Erkrankung weder Lesen noch Schreiben kann, unterstützte ihn seine Mutter bei der Verwirklichung eines Buches, das Gedanken und Geschichten von ihm, aber auch Interviews enthält.
Hauptsache leben
Ob er mit seiner Unternehmungslust der Krankheit etwas entgegenhalten wolle? «Ich möchte mich nicht von ihr herunterziehen lassen. Dabei helfen meine Eltern und mein Bruder, die mich immer unterstützten.» Jede Lungenentzündung, jede Erkältung kann für Mattia den Tod bedeuten – sowohl Herz- wie auch Lungenleistung bewegen sich auf rund 30 Prozent. Mattia wohnt seit einer Weile in einer betreuten Wohnform in Basel, wo er pflegerisch umsorgt ist. «Das gibt uns die Möglichkeit, echte Lebenszeit mit Mattia zu verbringen.» Im Jahr 2022, als die Fasnacht nur unter pandemiebedingten Schutzvorkehrungen stattfand, fragten die Eltern ihren Sohn, ob er trotz des Risikos Fasnacht machen möchte. Er sagte: «Ja, ich will, auch wenn’s meine letzte ist.»