«Schaue ich in den Spiegel, sehe ich etwas anderes»

Der Münchensteiner Autor Raju Schwarz erzählt in einem Hörspiel die Geschichte seiner Urgrossmutter, die den Widerstand gegen die Nazidiktatur mit dem Leben bezahlte. Die Spurensuche hat für ihn eine ganz persönliche Bedeutung.

Hat Wurzeln in Nepal: der Autor Raju Schwarz. Foto: Caspar Reimer

In Raju Schwarz’ Leben gibt es zwei Spurensuchen – eine betrifft die Geschichte der Familie Schwarz, die ihn 1980 als nepalesisches Kind aus einem indischen Armenkrankenhaus in die Schweiz geholt und adoptiert hatte: «Ich wollte wissen, woher die Familie kommt, bei der ich aufgewachsen bin», erzählt er, der heute in seinem Elternhaus in Münchenstein lebt. 2015 begab sich Schwarz auf Spurensuche und stiess dabei mütterlicherseits auf seine Urgrossmutter Martha Schwartz, die als Kommunistin in den 1930er-Jahren Flugblätter gegen Hitler verteilte, bis sie 1938 in Lörrach von der Gestapo verhaftet wurde – sie überlebte die Gefangenschaft nicht. «In unserer Familie war zwar bekannt, dass sich Martha Schwartz gegen den Nationalsozialismus eingesetzt hatte, man lobte ihr soziales Engagement, aber über Details wurde nicht gesprochen», erzählt der 44-Jährige.

Auch seine Grossmutter, die als damals 20-jährige Tochter die Geschehnisse miterlebt hatte, wollte nicht darüber sprechen. «Ich denke, es war ein Trauma für die Familie, das vielleicht auch mit Scham behaftet war.» Die Dramaturgin und Autorin Ursula Werdenberg brachte Raju Schwarz auf die Idee, die Geschichte seiner Urgrossmutter als Hörspiel zu erzählen. «1938 – Die Grenzgeherin Martha Schwartz» ist nun am vergangenen Montag auf Radio SRF 1 erstausgestrahlt worden. Und am kommenden Sonntag lädt Literaturspur, ein Basler Verein, der schweizweit literarische Spaziergänge anbietet, zu einer sogenannten Promenade mit dem Titel «Gefahr und Rettung. Eine Grenzüberschreitung zwischen Riehen und Lörrach» ein. Raju Schwarz wird an jene Orte führen, die für das Schicksal von Martha Schwartz entscheidend waren. Übrigens: Mutter und Vater des Münchensteiner Autors tragen den praktisch identischen Familiennamen – ihm wurde die väterliche Version gegeben.

Auf der Suche bei einer indigenen Volksgruppe in Nepal

Die andere Spurensuche in Raju Schwarz’ Leben betrifft seine biologische Herkunft. «Ich bin in Münchenstein aufgewachsen, spreche Baseldeutsch, doch schaue ich in den Spiegel, sehe ich etwas anderes», erzählt er. Er entstammt einer der indigenen Volksgruppen aus dem Osten Nepals, den Rai. Da es in Nepal üblich ist, die Volksbezeichnung als Familiennamen anzugeben, sei es ihm bisher nicht möglich gewesen, seine biologischen Eltern zu finden, wobei: «Das ist auch nicht mein primäres Ziel. Ich möchte einfach die Kultur kennenlernen, von der ich entstamme», erzählt er.

Bei seiner Spurensuche in Nepal und Indien hat er entdeckt, dass es unterschiedliche Angaben zu seinem Geburtsdatum gibt, seinen Geburtsort kennt er bisher nicht. «Etwas klarer werden die Spuren erst in dem Armenkrankenhaus in Indien. Wer mich aber dorthin gebracht hat, weiss man nicht.» Der Schriftsteller hat auf seinen Reisen die eine oder andere Überraschung erlebt: «Die Rai essen Fleisch und trinken Alkohol, während ich Vegetarier bin und keinen Alkohol trinke», sagt er lachend. «Die Menschen dort sind neugierig, wenn sie sehen, dass ich wie sie aussehe, aber eine ganz andere Geschichte habe.»

Raju Schwarz weiss, dass viele adoptierte Kinder schwer an ihrer Biografie tragen – einige zerbrechen am Gefühl, «nicht dazuzugehören, nicht im Leben anzukommen». Seine Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, hat ihm dabei geholfen, eine erfüllende Neugierde zu entwickeln. «Schon als Kind habe ich im Garten Chaschperli-Theater gespielt.» Lange Zeit ging er Gelegenheitsjobs nach, schrieb nebenbei, und 2021 konnte er an einem internationalen Stückwettbewerb in Athen seinen ersten Erfolg erleben.

Seine Recherchen über seine Urgrossmutter Martha Schwartz möchte er literarisch umsetzen – ein nächstes Projekt. Auf die Frage, was die Recherche zu Martha Schwartz in ihm bewegt habe, zieht er eine Verbindungslinie zwischen dem Engagement seiner Urgrossmutter und seiner Adoption. «Ich glaube, ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und ein starkes soziales Engagement liegen in der Familie.»

Martha Schwartz hatte damals nicht einzig Flugblätter verteilt, sondern Flüchtlinge aus Deutschland in Basel versteckt. «Die Entscheidung, ein Kind aus einem Armenkrankenhaus in Indien zu adoptieren, zeugt doch von dieser sozialen Empathie.»

«Gefahr und Rettung. Eine Grenzüberschreitung zwischen Riehen und Lörrach». Sonntag, 16. Juni und 20. Oktober, jeweils 11 bis 17 Uhr. Anmeldung und weitere Informationen: www.literaturspur.ch.

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