Ein Stück Weltliteratur in Arlesheim

Die Bibliothek Arlesheim lud den Schriftsteller Arno Camenisch und seinen Begleiter Roman Nowka am 20. Mai ins reformierte Kirchgemeindehaus zu einer Lesung ein. Seine Sätze sangen, tanzten und hüpften.

Ein Dream-Team in Sachen Performance: Roman Nowka (l.) und Arno Camenisch. Foto: Thomas Brunnschweiler
Ein Dream-Team in Sachen Performance: Roman Nowka (l.) und Arno Camenisch. Foto: Thomas Brunnschweiler

Es gibt in der Schweiz kaum einen anderen Schriftsteller, der seine Text so gut vorzutragen weiss wie der aus der Surselva stammende Arno Camenisch. Viele Literaturpreise – unter anderem der eidgenössische Literaturpreis – bestätigen die Kontinuität seines Schaffens. Nach der Begrüssung der Bibliotheksleiterin Monika Gschwind übernahm Camenisch zusammen mit seinem hervorragenden Gitarristen Roman Nowka den Abend.

In der ersten Hälfte las Camenisch aus seinem neuesten Roman «Der Schatten über dem Dorf». Es geht um eine Tragödie, die Erinnerung an die Toten und die Zuversicht, dass immer wieder der Frühling und das Leben zurückkehren. Der unschwer als Autor zu erkennende Pro­tagonist kehrt in sein Heimatdorf zurück. Der Anfangssatz lautet: «Die Welt stand still, und er war im Auto auf dem Weg nach Graubünden…» Wenn die Welt stillsteht, tritt eine Unterbrechung ein; man fällt aus dem Alltag und der Zeit. Der ­Autor bracht Sils-Maria e seine Sätze zum Singen, die Wörter durch den Duktus der Sprache zum Tanzen, interpretierte seinen Text auch körperlich.

Texte für das Hier und Jetzt

Der zweite Teil war eine Spoken-Word-Performance mit Musikbegleitung. Camenisch erklärte, diese Texte würden nie gedruckt und auch nie aufgenommen werden. Sie seien exklusiv für das anwesende Publikum. Er trug teils witzige, teils melancholische Gedanken über das Bündnerland, das Theater, das Gadmertal und anderes vor. Die Texte zeichnen sich durch etwas Litaneienhaftes, Repetitives oder Listenmässiges aus, bei dem auf humorvolle Weise Unvereinbares aufeinanderprallt. Das Publikum amüsierte sich köstlich. Roman Nowka lieferte zur rhythmisch perfekt vorgetragenen Textperformance auf der Elektrogitarre die passende Begleitung: zurückhaltend, repetitiv, meditativ.

Im neuen Roman schleichen sich kein Romanisch, kein Mundartschabernack und keine verworrenen Dialoge ein. Die Sprache ist nüchtern, klar und unprätentiös. Die Tragödie, dass drei Buben oberhalb des Dorfes verbrannten, sei ein «Mysterium», und das Schweigen darüber habe sich über das Dorf gelegt. Der Schmerz, der nicht aufhört, ist der melancholische Grundton in diesem anrührenden, intimen Requiem für die Toten.

Selbsttherapie durch Wiederkäuen

Stets wiederholt Camenisch dieselben Sätze, sodass viele Leser dies für Langatmigkeit halten könnten. In Wahrheit ist das Unfassbare nur durch «ruminatio», das stetige Wiederkäuen, zu bewältigen. Die «ruminatio» ist eine spirituelle Technik der frühen Mönche und Benediktiner. Auf dieses Wiederkäuen, «zu dem man beinahe Kuh sein … muss» (Nietzsche), stimmt der Philosoph 1887 in Sils Maria ein Loblied an. Nicht urban und psychoanalytisch ist an das Mysterium heranzukommen, sondern durch ländliches, fast stumpfes Wiederkäuen. Damit ist jene Tragödie aufgehoben im Sinne, dass sie ausser Kraft gesetzt ist; sie ist aber auch aufgehoben im Sinne, dass sie in der Verschriftlichung aufbewahrt wird. Damit ist der Protagonist Retter und Geretteter zugleich. Weltliteratur hat meist gleich­bleibende Handlungsorte, menschliche Grundthemen und den Anspruch, dass Form und Inhalt perfekt zusammenstimmen. Auf «Im Schatten über dem Dorf» trifft alles zu. Ein Stück Weltliteratur.

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