Alte Völker, junge Spinner und günstige Winde
Das fünfköpfige Team der Segelexpedition Leeway 22, mit drei Laufentalern an Bord, erreichte diesen Juli von Schweden aus plangemäss und unversehrt finnische Gestade.
Düstere Wolken bedecken die graue See und der rötliche Abendhimmel tritt bloss als feiner Streifen am Horizont hervor. Es ist kurz nach neun Uhr abends, als wir endlich auf unserem Floss aus der kleinen schwedischen Bucht ausfahren. Die begeisterten und hilfsbereiten Einwohner des Fischerdorfes Ratu sind uns in den vergangenen drei Wochen stark ans Herz gewachsen. Mit einem kleinen Motorboot schleppen sie uns aus der untiefen Bucht. Als das Wasser tief genug ist für unsere zwei Meter langen Steuerschwerter, die sogenannten Guaras, und der Wind kräftig bläst, geben wir das Zeichen zum Abhängen. Die Boote drehen eine letzte Runde und winkend fahren die Leute zurück ans Ufer. Wir setzen Kurs Ost, in dieser Richtung liegt unser Ziel: Finnland. Der Blick auf das Meer hinaus weckt ein ungewohntes Gefühl von mulmiger Vorfreude. Endlich sitzen wir nach über einem Jahr Vorbereitung und mehr als zwei Wochen Bauphase gemeinsam auf dem Meer.
Fichtenstämme und Plankendecken
Die Konstruktion des Flosses besteht aus sieben sechs Meter langen Fichtenstämmen, die mit vier Querbalken gebunden und mit einem Plankendeck überbaut sind. Der Mast ist sieben Meter hoch und an der Rah, dem Querstamm, der sich bis zur Spitze des Mastes hochziehen lässt, ist das mächtige rechteckige Segel befestigt. Wir steuern mit den Guaras, eine Segeltechnik, durch welche peruanische Urvölker vor über zweitausend Jahren die Pazifikinseln besiedeln konnten. Bekannt wurde diese Technik durch Kon Tiki, die Expedition, die 1947 unternommen wurde, um obgenannte Besiedelungstheorie zu beweisen. Mit der Expedition Leeway 22 wollen wir fünf — Nicolas Nussbaumer, Noe Schnyder, Florian Förster, David Botta und Michi Meury — dies nun auch tun. Allerdings testen wir mehr uns selbst als das Segelprinzip. Dass es theoretisch funktioniert, war klar. Ob wir unerfahrenen Binnenlandbanausen dies mit genug Motivation und eineinhalb Jahren Vorbereitung auch schaffen, galt es zu beweisen.
Die Überfahrt von Ratu, Schweden, nach Nykarleby, Finnland, ist happig und eindrücklich. Um möglichst mit Rückenwind zu fahren (wir kommen nicht näher als 90° an den Wind) warteten wir einen geeigneten Wetterslot ab. Mit den kräftigen Nordwestwinden, die uns nun nach Finnland pusten sollen, geht allerdings eine grobe See einher. Bis zu zwei Meter hohe Wellen, zehn Grad kaltes Wasser und konstanter Nieselregen machen uns und vor allem unseren sensiblen Schweizer Mägen gehörig zu schaffen. Immer wieder reckt einer den Kopf über Deck und grüsst die Fische. Im Gegensatz zu uns erweist sich aber die Konstruktion als absolut hochseetauglich. Selbst die heftigsten Wasserwalzen lassen das Floss kalt und keine einzige Welle schwappt ganz über das Deck. Das einzig Riskante an der Überfahrt sind wohl die Pinkelpausen: Man müht sich zuerst aus unzähligen Schichten von Schwimmweste, Regenjacke, Wathosen und Neopren. Und damit man dann beim konzentrierten Ins-Wasser-Zielen nicht mit runtergekrempeltem Neopren oben ohne vom schwankenden Deck in die eisigen Wogen fliegt, bedarf es eines Kollegen, der einen mit beiden Händen am Hosenbund hält. Wären da nicht der erbarmungslose Wind und die finsteren Wolken, würden sogar Jack und Rose vor Neid ob diesem romantischen Augenblick erblassen.
Nach 20 anstrengenden, aber unvergesslichen Stunden auf See fahren wir schliesslich in eine verlassene finnische Bucht in der Nähe der Gemeinde Nykarleby ein und gleiten durch die schäumende Brandung, Ziel erreicht.